jeden Tag eine Geschichte
Verwunschen

Verwunschen

Clara schüttelte ihr Handy und verfluchte den fehlenden Empfang, während sie den abfallenden grasbewachsenen Pfad hinauf stieg. Vor ihr ragte das alte verfallene Grauenhaus auf. Der Bewuchs mit wilden Kletterpflanzen bedeckte fast das gesamte Gebäude, die dunklen Vertiefungen der Vorhänge erzeugten ein schauerndes Gefühl, als ob sie beobachtet würde.

Clara hatte das Haus von ihrer Großtante geerbt – eine Frau, von der sie kaum etwas wusste. Sie war von Verwandten als eine „seltsame, alte Spinne“ bezeichnet worden, die kaum das Haus verließ und immer in Begleitung ihrer mysteriösen schwarzen Katze war.

Sie erkundete zuerst die unteren Räume, sah verblasste Familienporträts und alte Möbel bedeckt von Staub und Spinnweben. Die Erscheinung des Hauses spiegelte eine vergessene Zeit wider. Clara erzitterte und schloss die Tür eines Raumes, als sie pfeifende, kalte Luft durchströmte. Es war so kalt wie in einem Gefrierschrank.

Auf dem Weg zum ersten Stock stolperte sie über eine Rose, die an den Treppenstufen wuchs. Clara runzelte die Stirn. Eine solche Blume im Inneren und gut gepflegt? Ein Tropfen rot leuchtenden Blattnektars glitzerte an ihrem Ende. Seltsam…

Oben wurden die Zeichen der Verblasstheit stärker. Jede Tür erzeugte ein knarrendes Geräusch, das jedem, der es hörte, eine Gänsehaut verpasste. In einem Raum hinterließ das zerbrochene Glas des Fensters einen scharfen, kalten Atem, der von außen hereindrang.

Irgendwann betraten ihre müden Beine ein Schlafzimmer. In der Mitte des Raumes stand ein massives Himmelbett mit altmodischen Vorhängen, die mit dem Aussehen und dem Stil der Umgebung übereinstimmten. Auf den ersten Blick sah das Zimmer harmlos aus. Doch beim Hineintreten fiel ihr Blick auf ein schwarzes Pentagramm, das um das Bett gezeichnet war.

Plötzlich flogen die Vorhänge des Himmelbetts mit einem schauderhaften Flattern auf, obwohl es keinen Windzug gab. Sie blinzelte in die Dunkelheit, doch bevor sie irgendetwas erkennen konnte, gab es einen lauten Knall und das Licht im Raum erlosch. Ihr Herz trommelte wild gegen ihre Brust, als sie in die Dunkelheit starrte.

Überall im Raum flackerten kleine Lichter auf, als wäre es ein Sternenhimmel. Erst fasziniert, dann in Panik, bemerkte Clara, dass es sich bei den Lichtern um schwebende grüne Augen handelte, deren Anblick einen Kälteschauer über ihren Rücken jagte.

Das grelle Kreischen einer Katze ließ sie zusammenzucken. Irgendwo in der Dunkelheit fauchte und schnurrte etwas, wild und bedrohlich. Aber als sie sich umdrehte, um zu fliehen, stoppte sie abrupt. Denn da stand, mitten in der Schwärze, eine schwarze Katze mit smaragdgrünen Augen, die sie anstarrte. Clara verspürte eine fast übermenschliche Kälte.

Ihre Gedanken preschten. Könnte es sein, dass das Erbe ihrer Tante mehr beinhaltete als nur das Haus? Hatte sie die Pflichten ihrer Tante übernommen, ohne es zu wissen?

Mit gedämpftem Schrei wich sie zurück. Im selben Moment knackte es bedrohlich unter ihren Füßen. Der Blick nach unten brachte die gnadenlose Bestätigung: Sie stand mitten in dem Pentagramm. Die grünen Augen der Katze funkelten auf, und noch bevor Clara einen Schritt setzen konnte, wurden die Lichter wieder dunkel und das geisterhafte Murren verstummte.

Als Clara endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, wusste sie, dass sie mehr geerbt hatte als nur ein altes Haus, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Aber sie konnte nicht davonlaufen. Sie wusste, dass sie in dem alten Grauenhaus nicht alleine war. Sie wusste, dass etwas in dem Haus war. Etwas Unglaubliches und Verwunschenes.

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