jeden Tag eine Geschichte
Verlorene Wege im Nebel

Verlorene Wege im Nebel

Als Tim seine Augen aufschlug, war er von Nebel umgeben. Dichter, trügerischer Nebel, der jede Kontur unscharf machte, jedes Detail verschluckte. Der Boden unter seinen Füßen war seltsam federnd und feucht – Gras, vielleicht? Er wusste es nicht.

Tim trat einen Schritt vor und stolperte beinahe, als sein Fuß in ein Loch im Boden einsank. Er streckte die Arme aus, zu spät. Er versuchte verzweifelt, seinen Sturz aufzuhalten und konnte gerade so ein Schlagloch erkennen, umgeben von Dunkelheit. Ein kurzer Blick über die Schulter enthüllte nichts; der Nebel verschluckte jeglichen Beweis von Tim’s erstem Standort.

Gleichzeitig wuchs in ihm eine unbestimmte Furcht, ein Gefühl der Verlorenheit. Wo war er? Und wie war er hierher gekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Erinnern, und das machte ihm Angst.

Er begann zu laufen, um sich in Bewegung zu setzen, seiner Hilfslosigkeit zu entkommen. Doch egal, wie schnell Tim rannte, der Nebel blieb. Wurde dichter, intensiver. Jeder Atemzug schien ihm die Luft aus der Lunge zu saugen. Dann sah er es: Ein heller Punkt im grauen Nichts, ein Licht. Hoffnung keimte in ihm auf. Er rannte. Schneller und schneller.

Aber der Ort, der Lichtquelle, blieb unerreichbar. Als wäre Distanz hier bedeutungslos. Tim wurde langsamer, sein Atem ging stoßweise. Das Licht erlosch. Er war allein. Allein im Nebel. Er fiel auf die Knie, zerrissen von der Dunkelheit und Stille.

Schließlich glaubte Tim, Stimmen zu hören. Ein leises Wispern, das vom Nebel zu ihm getragen wurde. Worte, die er nicht verstand, ein Sprachgemurmel, das von überall und nirgendwo zugleich zu kommen schien. Sie riefen seinen Namen. Über und über wieder. „Tim, Tim, Tim“. Es waren nicht die beruhigenden, sanften Stimmen, die er sich gewünscht hätte, sondern kalte, halb lachende, halb spottende Rufe, die ihn tiefer in den Nebel zogen.

Er rannte erneut, doch dieses Mal weg von den Stimmen, weg von… sich selbst? Er wusste es nicht. Er konnte nur rennen und hoffen das er daraus entkam. Plötzlich stoppte er. Vor ihm, kaum sichtbar im Nebel, ragte eine große, dunkle Gestalt auf. Er konnte es nicht erkennen, aber es war da. Etwas, das noch weniger zu diesem Ort gehörte als er selbst.

Sie sprach nicht, sie bewegte sich nicht. Sie war nur da, verborgen im Nebel, bei ihm. Plötzlich flog sie auf ihn zu und bevor er einen Schritt zurück machen konnte, wurde er von einer dunklen, nebligen Masse umhüllt. Dann gab es nur noch Dunkelheit.

Als Tim seine Augen aufschlug, war er von Nebel umgeben. Selber Ort, selber Nebel. Oder war es das? Er konnte sich nicht erinnern. Und er wusste nicht, ob er es je würde.

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