jeden Tag eine Geschichte
Grauenvoller Morgen

Grauenvoller Morgen

Mia wachte auf. Ihr Wecker blinkte 03:00 Uhr. Sie atmete tief durch und seufzte. Warum konnte sie nicht einfach mal durchschlafen? Ein heftiger Regen prasselte draußen gegen ihr Fenster, die Jagd einer besonders erbarmungslosen Gewitterfront.

Sie ging ins Badezimmer, und während sie sich betrachtete – das matte Haar, die geschwollenen Augen – wünschte sie sich, sie hätte nicht aufstehen müssen. Sie fühlte sich müde, so unendlich müde. Als sie das Badezimmer verließ, fiel ihr Blick auf den Spiegel im Flur. Ihre Wohnung erschien darin seltsam verzerrt, wie durch einen düsteren Traum gefiltert.

Ein leises Klirren ließ sie zusammenzucken. Es kam aus der Küche. Ihr Körper versteifte sich schlagartig. Sie lebte alleine in dieser Wohnung. Da hätte kein Geräusch aus der Küche kommen dürfen.

Langsam, fast behutsam, näherte sie sich der Küchentür. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Ihre Hand umklammerte die Türklinke. Sie drückte diese vorsichtig herunter und spähte in den Raum. Und dann erstarrte sie.

Jemand saß an ihrem Küchentisch. Die Silhouette war kaum erkennbar im Schatten, aber es war definitiv eine menschliche Gestalt. Mias Atem stockte in ihrer Kehle. Ein Einbrecher? Ein Irrer? Sie krallte ihre Hände in den Türrahmen, unfähig, sich zu bewegen.

Die Figur saß völlig ruhig, nur der Kopf wandte sich langsam zu ihr. Unter dem schwachen Mondlicht erkannte sie eine weibliche Gestalt. Ihre Haut war so bleich, dass sie fast ins Grau überging. Ihre Augen schienen gänzlich weiß zu sein.

„Wer …“, begann Mia, aber ihre Stimme brach ab. Die fremde Frau deutete auf den Küchentisch. Jetzt erst fiel Mia das Foto auf. Es war ein altes Bild von ihr und ihrer Freundin Emily, aufgenommen vor etwa zehn Jahren. Aber Emily war tot. Sie war vor fünf Jahren an einem schlagartigen Herzversagen gestorben.

Die Fremde sprach mit einer kühlen, leisen Stimme. Worte prasselten auf Mia ein: Tod, Leben, Zeit… Sie sprach von einem Preis, den man bezahlen muss. Von einem Gleichgewicht, das existiert. Eine Welle der Realisierung durchflutete Mia.

Die Frau war nicht da. Sie war niemals da gewesen. Der Wecker blinkte 03:03 Uhr. Mia, fröstelnd, eilte zurück zu ihrem Schlafzimmer, und sank in die Kissen. Es war keine lebende Person in ihrer Küche.

Am nächsten Tag erfuhr sie durch eine Nachricht auf ihrem Handy, dass ihre Tante in Oregon plötzlich gestorben war. Genau um 3 Uhr morgens. Die genaue Uhrzeit, als diese grauenhafte Begegnung stattgefunden hatte.

In diesem Moment definierte Mia ihre Wahrheit neu. Sie konnte die warnende Stimme der Frau noch in ihren Ohren hören: Ein Gleichgewicht, das existiert. Ein Leben für ein Leben. Der Preis, den man bezahlen muss. Wer sie auch gewesen war, sie hatte ihr eine erschütternde Warnung hinterlassen. Und Mia würde nie wieder so unbesorgt schlafen können.

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