jeden Tag eine Geschichte
Nebelgrab

Nebelgrab

Laura stapfte durch den feuchten Herbstnebel, der wie ein stummes Leichentuch über dem alten Friedhof lag. Die Wegweiser waren unter der Moosdecke kaum mehr zu erkennen, sodass sie sich allein auf ihr nervöses Bauchgefühl verließ, um das Grab ihrer Großmutter zu finden.

Plötzlich fing ihr Smartphone an zu vibrieren. Beim Blick auf den Bildschirm fröstelte sie. „Unbekannter Anrufer“ stand da. Mit zittrigen Fingern nahm sie den Anruf entgegen.

„Du bist direkt neben mir“, raunte eine grausame, archaische Stimme. Laura drehte sich reflexartig um, und doch war niemand zu sehen außer den verschwommenen Konturen der Grabsteine in dem undurchdringlichen Nebel. Sie beendete den Anrufer und beschleunigte ihren Schritt, der unterdrückte Angstschweiß auf ihrer Stirn mischte sich mit dem kalten Herbstgefallenen.

Ihr Smartphone vibrierte erneut. Das Display leuchtete hell im Grau des Nebels auf, auf dem Bildschirm stand wieder „Unbekannter Anrufer“. Mit zitternden Knien drückte Laura den grünen Button. Diesmal sagte niemand etwas, aber sie konnte eine schwache, heisere Atmung hören, dicht gefolgt von einem tiefen, bellenden Lachen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Sie warf das Handy weg, rannte los, versuchte verzweifelt, dem unheimlichen Nebel und den verstörenden Anrufen zu entkommen. Aber egal, in welche Richtung sie lief, an jeder Ecke erwartete sie nur mehr verblasste Grabsteine. Sie war wie in einer anderen Welt, abgeschnitten von der Realität und ins Ungewisse gezwungen.

Plötzlich stolperte sie und fiel zu Boden. Sie konnte fühlen, wie die kühle Erde ihrer Hände umschloss. Sehen konnte sie nichts, der Nebel war zu dicht. Sie tastete sich vorwärts und spürte etwas Hartes. Ein Stein. Sie wollte sich gerade erheben, als sie etwas Kaltes und Nasses auf ihrer Handfläche spürte.

Es war eine Metallplatte auf dem Stein, darin eingraviert ein Name. Der Name ihrer Großmutter. Sie hatte ihr Grab gefunden. Doch bevor sie aufstehen konnte, vibrierte der Boden sanft, die harte Erde unter ihr fing an, sich zu bewegen. Als würde etwas darunter versuchen auszubrechen. Sie spürte, wie ihre Fingernägel in die kalte Erdkrume stachen, ihr Herz schlug so laut in ihrer Brust, sie war sicher, sogar die Toten könnten es hören.

Sie wollte schreien, konnte aber keinen Ton herausbringen. Ihr Körper fühlte sich an wie in Stein gemeißelt, unfähig, sich zu bewegen oder zu fliehen. Sie konnte nur zuhören, wie das Kratzen und Schlagen immer lauter wurde, immer näher, bis ein letzter, ohrenbetäubender Schlag die grabesstille Nacht durchbrach. Dann war alles still.

Sie wartete, atmete stockend, ihr Herz raste immer noch, und doch traute sie sich nicht zu bewegen. Der Nebel um sie herum schien in grelles Weiß überzugehen, der bittere Geschmack von Angst in ihrem Mund. War es vorbei? War dieses unheimliche Wesen nun frei?

Das Handy lag ein paar Meter von ihr entfernt, das Display schwarz wie die Nacht. Plötzlich leuchtete es kurz auf, und Laura las die Worte: „Willkommen im Nebelgrab“.

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