Seit Laura in ihre neue Wohnung gezogen war, fühlte sie sich nie wirklich alleine. Sie hatte das Gefühl, als würde sie ständig beobachtet und konnte es einfach nicht abschütteln. Nachts wachte sie oft auf, in der tiefen Dunkelheit, und blickte in den großen, antiken Spiegel, den der Vorbesitzer zurückgelassen hatte. Seltsamerweise wirkte ihr eigenes Spiegelbild in diesem dunkel und verzerrt, fast wie ein eigenes Wesen.
Eines Nachts erhob sie sich aus dem Bett und zog sich zu dem großen Spiegel hin. Sie blickte in ihr eigenes Gesicht und erstarrte. Dort, hinter ihr, war ein Schatten, der ihrer Silhouette glich, nur eine Spur dunkler. Laura rieb sich die müden Augen und sah erneut in den Spiegel, doch der Schatten war verschwunden.
In den darauffolgenden Tagen nahm der Schatten im Spiegel Gestalt an. Es war gesichtslos, trug jedoch die Form eines Menschen, nur düsterer und bedrohlicher. Es wiederholte nicht ihre Bewegungen, sondern stand einfach da, starr und unnachgiebig. Es antwortete nicht auf ihre Fragen oder auf ihre Versuche, es zu vertreiben.
Sie suchte Hilfe bei ihren Freunden, doch niemand sah den Schatten. Sie beteuerten, dass es vielleicht ein böser Traum war oder nur eine optische Täuschung. Doch Laura wusste, es war real. Sie ging zu Schlafexperten, Psychologen, aber niemand konnte ihr helfen. Ihre Ängste verdichteten sich und schlaflose Nächte folgten.
An einem kalten Winternachmittag saß Laura auf ihrem Sofa, direkt gegenüber dem Spiegel. Plötzlich stand der Schatten im Spiegel auf und bewegte sich langsam auf sie zu. Angst durchzuckte sie, ihr Herz raste und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wünschte sich, dass jemand da war, jemand, der ihr helfen konnte.
In der darauf folgenden Sekunde umarmte der Schatten im Spiegel sie. Sie konnte es kaum glauben. Es war kalt, erbarmungslos kalt. Sie wollte schreien, doch ihre Stimme versagte. Der Spiegel war nicht länger nur ein Spiegel, er war ein Portal. Ein Portal, das sie nicht zurücklassen würde.
Schließlich löste sich der Schatten. Der Raum war leer, nicht einmal ihre Reflektion blieb zurück. Seitdem sperrte Laura den Spiegel in einem kleinen Abstellraum ein, damit sie ihn nicht sehen musste. Sie verdeckte ihn mit alten Laken, aber es half nicht. Sie konnte immer noch diese kalte Umarmung spüren. Es war da, lebendig hinter eingesperrten Türen. Es flüsterte ihren Namen, jede Nacht.
Jetzt lebt Laura mit einem stummen Schrecken. Sie altert, alleine in einer Wohnung voller Spiegel, aber sie kann keine wiederspiegelnde Oberfläche betrachten ohne eine Gänsehaut zu bekommen. Der Schatten im Spiegel ist immer noch da, verborgen, doch ständig beobachtend. Sie fragt sich, ob der Schatten je wieder Gestalt annehmen wird, ob er jemals wieder gehen wird, oder ob er einfach nur darauf wartet, dass sie sich erneut in den Spiegel blickt.