jeden Tag eine Geschichte
Verlorene Schreie

Verlorene Schreie

Es war eine scheinbar ganz normale Nacht in dem kleinen Küstenstädtchen Winden. Ein leichter Schleier aus Nebel umhüllte das Fischerdorf, dass von Mondlicht gesegnet war. Die einzigen Geräusche waren das leise Rauschen des Ozeans und der gedämpfte Lärm des nächtlichen Fischmarktes.

Annika, aber von jedem nur Nika genannt, saß auf der kleinen Holzveranda ihres uralten Hauses und starrte in die Dunkelheit. Ihr Smartphone lag in ihrer Hand. Der Bildschirm war gesperrt und dunkel. Sozialen Medien hatten sie immer mehr abgeschworen, das permanente Einsammeln von Likes und Herzen war ihr einfach zu anstrengend geworden.

In der Stille hörte sie plötzlich Schreie. Laut, panisch und sie waren voller Angst. Doch sie konnten nicht echt sein. War der Sound vom Snapchatfilter? Oder von ihrem Lieblingshorrorvideo auf TikTok? Nein, das Handy blieb stumm und dunkel. Aber die Schreie wurden lauter.

Nika sprang auf und rannte in Richtung der Geräusche. Sie kamen definitiv aus dem alten Leuchtturm am Ende der Stadt. Kaum einer besuchte den Turm noch, er war mittlerweile eine verrostete, alte Seefahrerlegende. Trotzdem führten ihre Füße sie dorthin, ihre Neugier überwog die Angst.

Die alte Tür des Leuchtturms quietschte, als sie sie öffnete. Es roch nach verfaultem Holz und Salz. Sie blinzelte immer wieder, um im Dunkeln besser sehen zu können, doch es half nicht viel. Die Schreie hielten ihr Herz fest.

Hinaufklettern? Ein Schauer lief über ihren Rücken, doch sie zwang sich, die erste Stufe zu betreten. Mit jedem Schritt, den sie in die Höhe kletterte, wurden die Schreie lauter und schienen ihr noch näher zu kommen. Bis sie schließlich auf der obersten Plattform stand.

Nika sah rundum, jedoch war niemand zu sehen. Doch der schreckliche Lärm währte fort. Als ob das Meer selbst schrie. Sie schloss die Augen. Eine alte Story ihres Großvaters kam ihr in den Sinn, eine Geschichte von verlorenen Seelen, die bei Nacht aus der Tiefe des Meeres schrien.

Nika riss schließlich ihr Smartphone hoch und startete die 4K-Videoaufnahmefunktion. Die Schreie hielten plötzlich inne. Auf dem Display ihres Telefons sah sie den dunklen Ozean und den schimmernden Himmel. Aber nichts Auffälliges, nichts was diese Albtraumgeräusche hätte erzeugen können.

Als sie die Aufnahme beendete und ihr Handy sinken ließ, begannen die Schreie erneut. Lauter und verzweifelter denn je. Angst schnürte ihre Kehle zu, ihr Atem kam stoßweise. Sie verließ den Turm so schnell sie konnte.

Zurück in ihrem Haus spielte sie das Video auf ihrem Gerät ab. Alles Blaue Nacht, dunkler Ozean, ruhiger Himmel. Aber dann hörte sie es. Die Schreie. Klar und deutlich.

Sie war überzeugt, nur sie konnte sie hören. Diese Schreie, eisig wie der Ozeansturm, elend wie die tiefe Dunkelheit. Sie wusste, dass sie etwas Unerklärliches erlebt hatte. Etwas, das niemand glauben würde. Etwas, das die digitalste Technologie jemals einfangen könnte. Es waren verlorene Schreie, sie gehörten ihr jetzt.

Und obwohl sie ihr Handy ausschaltete und zur Seite legte, hörte sie die Schreie. Leise wie ein Echo, aber sie waren immer noch da. Sie schaute hinaus in die bleiche Mondnacht und wusste, sie würden nie mehr verschwinden. Ihre einzige Gesellschaft in der unendlichen Ozeanstille.

Facebook
X
LinkedIn
Facebook
WhatsApp