jeden Tag eine Geschichte
Verfluchtes Whispern

Verfluchtes Whispern

Tiefe Dunkelheit umhüllte Jonas wie ein unheilvolles Gewand, als er nach seiner Schicht das im Backsteinstil erbaute Gebäude verließ. Ein kalter Wind fegte durch die engen, menschenleeren Gassen und führte ein gespenstisches Flüstern mit sich; eine Melodie, die von unzähligen Stimmen gesungen wurde, von denen jede ihre eigene beängstigende Geschichte zu erzählen schien.

Plötzlich traf ihn eine eiskalte Brise, und er hörte deutlich ein flüsterndes „Jonas“. Er zuckte zusammen, drehte sich um, doch hinter ihm lag nur Dunkelheit. Er zog seine Jacke enger um sich und beschleunigte seine Schritte, doch das Flüstern verstärkte sich. Es formte Sätze, flüsterte von vergessenen Albträumen, geheimen Ängsten und unerfüllbaren Sehnsüchten. Das Flüstern setzte sich unter seine Haut, grub sich in sein Bewusstsein ein und ließ ihn nicht los.

Wieder erschallte sein Name – lauter, fordernder. Wieder und wieder. Von hinten hörte er ein schnelleres Flüstern, dichter an seinem Ohr. Es war kein natürliches Geräusch, kein Klang, der in die menschliche Realität passte; es klang nach der anderen Seite, nach Schatten und Nebel, nach unergründlicher Dunkelheit.

Er rannte nun, seinen Verfolger abzuschütteln, doch das Flüstern wurde immer lauter, immer intensiver. Die unbeleuchteten Straßen schienen sich vor ihm zu winden, ihn tiefer in ihr dunkles Herz zu ziehen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Jede Kurve, jeder Schatten wisperte seinen Namen, so wie wenn die Dunkelheit selbst ihn suchte.

Schließlich hielt Jonas abrupt an. Eiskalter Schweiß bedeckte seine Stirn und sein Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust. Die Worte des Flüsterns hatten sich verändert. Es war kein Unbekanntes mehr, das ihn rief, sondern die Stimmen seiner Liebsten – seine Mutter, seine Schwester, die lachende Stimme seiner Nichte. Doch in jedem Klang war auch ein Zischen, distanziert und kalt, das ein Gefühl von Verzweiflung und Elend in ihm auslöste.

Er schloss die Augen, betete zu jeder Gottheit, an die er sich erinnern konnte, um Gnade, um Erlösung. Doch als er die Augen wieder öffnete, war die Dunkelheit nur noch tiefer, das Flüstern nur noch greifbarer. Es formte Gestalten, Menschen, die er kannte, Menschen, die er vermisste; es formte ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihre vorwurfsvollen Augen direkt vor ihm in der Dunkelheit.

„Warum hast du uns verlassen, Jonas?“, wisperten sie, ihre Stimmen mischten sich mit dem stetigen Gesang des Windes. „Warum hast du uns zugelassen, in die andere Seite zu gehen, Jonas?“

Er sank auf die Knie, Tränen liefen unkontrolliert über sein Gesicht, während die schattenhaften Gestalten auf ihn herabblickten. Ihre Blicke waren nicht von Wut beherrscht, sondern von tiefer Traurigkeit und Qual. Höhnisches Lachen mischte sich mit dem Flüstern, während sie immer wieder seinen Namen sagten, immer wieder die gleiche Frage stellten.

„Warum, Jonas?“

Als der erste Strahl der Morgensonne die Straßen berührte und die Dunkelheit vertrieb, war Jonas nirgendwo zu finden. Alles, was von ihm übrig war, war das Echo seiner Antwort, die immer noch in der Luft hing und von den Wänden der alten Gebäude widerhallte: „Ich weiß es nicht.“

Und irgendwo in der Stille, wenn man genau hinhörte, konnte man immer noch das verfluchte Wispern hören, dass sich jetzt einen neuen Namen suchte.

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