jeden Tag eine Geschichte
Gespenster im Nebel

Gespenster im Nebel

Die kalte Luft umhüllte Lucy, als sie die schwere Eichentür des Herrenhauses öffnete. Ihr deutlich schneller schlagendes Herz, der Atem, der sich in weißem Dunst vor ihrem Gesicht auflöste, sagte ihr, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Sie war die neueste Teilnehmerin in der Challenge, die Lust auf Adrenalin und Ruhm in der Online-Welt versprach. Sie musste eine Nacht in dem alten Herrenhaus verbringen, durchdrungen vom Geruch des Modernden und dem Schleier der Vergangenheit.

Sie schritt vorsichtig durch das rund hundert Jahre alte Haus, die GoPro fest an der Stirn geschnallt, den nervösen Kommentar in Echtzeit an ihre Livestream-Zuschauer gerichtet. Schatten tanzten über die alten Tapeten, während der schwache Schein ihrer Taschenlampe versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen.

„Also… Ich bin jetzt in der Diele… Ihr wollt, dass ich den Kamin anschalte?“ Sie wartete auf das Feedback ihrer Community, hörte nur das Rauschen in ihrem Ohr – dann eine Bestätigung. Mit zitternden Händen entfachte sie das Feuer. Plötzlich erstarrte sie. Aus dem Nebel des Kamins schienen Gestalten zu entstehen, durchsichtig und schemenhaft, doch deutlich menschlich. Sie nahm einen tiefen Atemzug und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Hatte sie den gut funktionierenden Kamin etwa gerade zum Leben erweckt?

Die Halluzinationen wurden intensiver, Gestalten huschten durch die Räume des Hauses. Sie flüsterte Kommentare in die Kamera, der Atem ging ihr schneller. Die Gestalten näherten sich Lucy, huschten durch sie hindurch. Es fühlte sich an, als würde etwas Kühles ihre Seele streifen. Sie schrie, stolperte rückwärts, rannte, stürzte die Treppe hinauf, in ein Zimmer hinein, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich daran. Sie konnte fühlen, wie das Adrenalin durch ihre Adern pumpte.

Wieder formten sich im Nebel durchscheinende Gestalten, diesmal mit noch klareren Gesichtszügen. Kinder, Frauen, alte Männer, alle scheinbar auf sie zukommend. Sie konnte es in den Augen der Gestalten sehen, diese unendliche Leere… Die ursprüngliche Aufregung war längst der reinen Angst gewichen. Sie stand auf, wandte sich ab, presste die Augen zu und flüsterte ein kurzes Stoßgebet.

Plötzlich brach der Kontakt ab. Ihre Follower sahen nur noch ein Standbild, Lucy, den Rücken zur Kamera gewandt, tief gebeugt, die Hände zur Faust geballt, als ob sie gegen etwas ankämpft, dass sie nicht besiegen kann. Dann war das Bild schwarz…

Am nächsten Morgen fand man Lucys Handy und die GoPro. Von Lucy keine Spur. Die Letzten, die sie lebend gesehen hatten, waren ihre Follower, die Live-Zeugen ihrer Schrecken im Nebel. Der Raum war kalt, ein Geruch von alten Geheimnissen und der unausweichlichen Vergangenheit lag schwer in der Luft. In dem alten Haus, dem Haus der toten Seelen, hinterließ Lucy ihre Angst und die kühle Schlaffheit des Nebels. Ihre Existenz begrenzte sich nun auf ein paar Videoaufnahmen und Livestream-Kommentare. Und die Stimme der Gespenster, die weiterhin im Nebel wandeln und auf ihr nächstes Opfer warten…

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