jeden Tag eine Geschichte
Schreie im Schatten

Schreie im Schatten

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Miranda rieb sich die Augen wach. Es war das Geräusch gewesen, welches sie aus ihrem Schlaf riss. Wie ein Wispern oder ein Flüstern, kaum wahrnehmbar, doch unmissverständlich da. Sie holte tief Luft und warf einen Blick auf die digital leuchtende Uhr auf ihrem Nachttisch – 03:08. „Du hörst Dinge“, murmelte sie sich selbst zu, rollte sich zur Seite und bemühte sich, wieder einzuschlafen.

Doch das Wispern wurde lauter, formte sich nun zu einem Wimmern, welches sie praktisch aus dem Bett trieb. Mit erschrockenen Blicken sah sie sich in ihrem dunklen Wohnzimmer um. „Ruhe dich aus, Miranda. Du bildest dir das nur ein.“ Doch die Geräusche wurden realer, lauter. Diese waren nicht eingebildet.

Miranda nahm ihren Mut zusammen und folgte dem Geräusch, das sie zu dem dunklen Flur führte. Es kam aus einer der unteren Wohnungen. Doch während sie dem Geräusch näher kam, auf das dunkle Ende des Flurs zugingen, wurde es unheimlicher, schien fast zu einem grausamen Schreien zu werden, dem man nur in den tiefsten Albträumen begegen würde.

Die Wohnungstür stand einen Spalt offen und das Geräusch wurde noch intensiver, schrecklicher. Miranda öffnete sie vorsichtig und trat ein. Das Geräusch kam aus einer der Schlafzimmer, in dem nur das sanfte Licht von der Straßenlaterne draußen das Dunkel erhellte.

Miranda betrat den schlichten Raum, doch das, was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ein großes Bett in der Mitte des Raumes, jedoch leer, und direkt darüber schwebte schattenartig, fast durchscheinend, eine schreiende Frau.

Sie wusste nicht, wie lange sie da stand, das Bild von der schreienden Schattenfrau auf der Netzhaut. Miranda war gelähmt, konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur die alptraumhaften Schreie waren in ihrem Kopf.

Schließlich stürzte sie aus der Wohnung, die Schreie der Schattenfrau immer noch in ihren Ohren. Sie raste durch den Flur, ihr Herz pochte wie wild, während sie in ihre eigene Wohnung stolperte und die Tür hinter sich zuschlug.

In der eisigen Stille ihrer eigenen Wohnung konnte sie immer noch die Schreie hören, gedämpft und doch präsent. Sie wusste nun, dass sie diese nicht eingebildet hatte. Mit einer Mischung aus Angst und Verwirrung lehnte sie gegen die kühle Tür, ihr Kopf pulsierte. Die Schattenfrau blieb in ihren Gedanken, das Bild würde sie wohl für immer verfolgen.

Hatte sie wirklich eine Erscheinung gesehen? Oder hatte sie nur geträumt? War die schreiende Frau in ihrem Bett gestorben und war nun gefangen in dieser Welt? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf, doch keine davon konnte sie beantworten.

Als die Sonne aufging, saß Miranda immer noch an derselben Stelle, blass und zitternd. Auf ihren Lippen lag eine stumme Frage: Was zur Hölle war in dieser Wohnung passiert? Doch die Antwort blieb aus, nur die stummen Schreie der Schattenfrau hallten immer noch in ihren Ohren nach, bis in die kommenden Tage und Nächte.

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