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Die Stimme im Sturm

Die Stimme im Sturm

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Es war eine kalte, stürmische Nacht. Der Regen prasselte hart gegen die Fenster und Donner grollte in der Ferne. Lena saß zusammengekauert auf ihrem Bett und starrte auf ihr Handy. Ihre Eltern waren bei einer Abendveranstaltung und würden wahrscheinlich erst spät zurück sein. Der Sturm hatte das Internet und das Festnetz lahmgelegt, sodass sie völlig von der Außenwelt abgeschnitten war.

Während sie mit ihren Fingern nervös auf das Display tippte, hörte sie plötzlich eine ungewöhnliche Geräuschquelle. Es war eine Stimme, klar und bestimmt, die ihren Namen rief. „Lena“, klang es durch das tosende Unwetter. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie sah sich erschrocken um. Das Haus war leer, sie war allein.

Die Stimme schien aus dem Sturm selbst zu kommen; eine sanfte, singende Stimme, die sich durch das Heulen des Windes zwängte. „Lena, komm zu mir“, flüsterte sie. Angst lähmte Lena für einen Augenblick, aber die Neugier überwog. Mit zitternden Händen zog sie einen Mantel über und trat vorsichtig in den Regen hinaus.

Das Wasser prasselte auf ihr nieder, wie eisige Nadeln, aber die Stimme lenkte sie ab. Sie war melodisch, verführerisch, und sie führte sie weiter vom Haus weg, tiefer in den Wald hinein. Irgendwann blieb sie stehen, erschöpft und durchnässt, und bemerkte, dass sie nicht mehr genau wusste, wo sie sich befand.

Dann sah sie sie. Ein Mädchen, kaum älter als sie selbst, saß an einen Baum gelehnt. Sie war bleich, mit langen nassen Haaren, die ihr über Gesicht und Schultern hingen. „Wer bist du?“, fragte Lena, trotz ihrer Angst. „Ich bin wie du“, hauchte das Mädchen, „und ich brauche deine Hilfe.“

Lena konnte es nicht glauben. Sie war bei einem Sturm hinausgegangen, um einer Stimme zu folgen, die von einem Geistermädchen kam. Einem Geistermädchen, das ihre Hilfe wollte. „Was… was kann ich für dich tun?“, fragte sie schließlich, verwirrt und ängstlich.

Das Mädchen sah sie an, ein schimmernder Hauch von Traurigkeit in ihren Augen. „Ich war einmal wie du. Ich hörte die Stimme im Sturm und folgte ihr, und jetzt bin ich hier, gefangen, unsichtbar. Aber du… du kannst mich sehen. Du kannst mir helfen, wiederzufinden, was ich verloren habe.“

Mit zitternden Händen zog das Mädchen ein goldenes Amulett hervor, das sie um ihren Hals hing. „Bring das zu meiner Familie“, sagte sie und übergab es Lena. „Sie leben im nächsten Dorf, im blauen Haus am Ende der Straße. Sie wissen, dass ich nicht zurückkehren kann, aber dieses Amulett… sie haben es seit meiner Abreise vermisst.“

Als Lena in die Nacht flüchtete, fiel der Regen sanfter und die Stimme des Mädchens erstarb allmählich. Doch in ihrer Hand lag das Amulett, glänzend und warm, als ob es das Leben des Mädchens selbst trug. Und irgendwo in einem blauen Haus am Ende der Straße weinte eine Familie um ihre verlorene Tochter, nichtsahnend von der Begegnung, die im Herzen des Sturms stattgefunden hatte.

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