jeden Tag eine Geschichte
Schattenfrost

Schattenfrost

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Es war ein klirrend kalter Winterabend und das kleine Dorf Grinsby lag wie ein langer, schwarzer Schatten im eisigen Frost. Ein einsamer Fahrgast, ein junger Mann namens Ethan, betrat das einzige Lokal des Dorfes – die ‚Eisige Eiche‘. Die Dorfbewohner heiritten in ihren dicken Wintermänteln um das lodernde Kaminfeuer und betrachteten den Neuankömmling mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.

„Ich wundere mich nur“, murmelte Ethan und zog seine Fingerkuppen an die Wärme des Kaminfeuers, „warum in aller Welt nennt ihr diesen Ort ‚Schattenfrost‘? Ich meine, klar, es ist kalt, aber der Name scheint übertrieben.“

Ein alter Mann, dessen Augen vor Alter und Mudigkeit getrübt waren, hob den Kopf und starrte scharf auf Ethan. „Haben Sie jemals einen Schatten in der Kälte gesehen, Junge?“, fragte er und seine Stimme knarrte wie die eisüberzogenen Äste draußen.

Ethan lachte unbeholfen, doch seine Augen wanderten unaufhörlich zu den dunklen Ecken des Raumes. „Nein, ich kann nicht sagen, dass ich das habe. Aber ich nehme an, dass Schatten ziemlich kalt sein können.“

„Es sind nicht die Schatten, die kalt sind“, erklärte der alte Mann, „es ist das, was sie mit sich bringen.“

In jener Nacht erwachte Ethan zu einem eigenartigen Geräusch. Es war ein kratzendes Geräusch, als würde jemand ganz sanft über die Scheiben seiner Fenster streichen. Ethan drehte sich in seinem Bett um und starrte hinaus ins Dunkel. Es war eine Vollmondnacht und das Dorf war in ein bleiches, geisterhaftes Licht getaucht.

Da war es wieder. Das leise Kratzen. Und jetzt sah er sie. Schatten. Große, nichtmenschliche Schatten, die sich an den Wänden seiner Unterkunft abzeichneten. Ethan riss die Fenster auf und starrte hinaus. Der Frost hatte die Fläche der Scheiben mit feinem, funkelndem Eis überzogen. Justin, der Barkeeper, hatte Ethan gewarnt. Nicht hinauszusehen. Nicht nach Mitternacht. Aber die Neugier getrieben, konnte er nicht widerstehen.

Die Schatten waren jetzt näher und so klar umrissen, dass er fast ihre Gestalten erkennen konnte: groß, hager, mit langen krummen Klauen statt Händen. Ethan erschrak, stolperte rückwärts und landete hart auf dem Boden. Der kalte Marmor schnitt durch seine Kleidung und ihm wurde klar, dass er nicht mehr allein war.

Endlose Minuten vergingen, jeder Moment ziehend wie ein Albtraum. Der Raum wirkte plötzlich eisiger, dunkler. Dann eine Bewegung in seinem Augenwinkel. Ein Schatten hatte sich von der Wand gelöst und bewegte sich auf ihn zu. Ethan konnte nichts tun, außer stumm zu starren, während seine unbezähmbare Angst ihn lähmte.

Die Gestalt streckte seine klauenartigen Finger aus und ein eisiger Hauch erfüllte den Raum als sie Ethans Wangen berührte. Er kniff die Augen zusammen, bereit sich seinem Schicksal zu stellen, als ein sehe helles Licht den Raum erfüllte.

Als er seine Augen öffnete, waren die Schatten verschwunden und das Zimmer war leer. Ethan sah, dass die Sonne ihren ersten Schein über die frostigen Äste von Grinsby streute. Er war noch am Leben. Aber etwas hatte sich verändert. Als er aus dem Fenster blickte, waren seine Augen vom Sonnenschein nicht geblendet.

Er erinnerte sich an die Worte des alten Mannes, „Es sind nicht die Schatten, die kalt sind, es ist das, was sie mit sich bringen.“ Ethan begriff endlich, was ‚Schattenfrost‘ bedeutete. Ein Schatten hatte ihn berührt. Und es hatte etwas zurückgelassen. Etwas Kälteres als den Frost draußen, Etwas Dunkleres als die tiefsten Winternächte. Ein Teil von ihm, der einmal warm und lebendig gewesen war, war nun frostig und leer. Kalt wie ein Schatten.

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