jeden Tag eine Geschichte
Nachtflüstern

Nachtflüstern

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Es war eine klare, kalte Nacht. Der Vollmond hing schwer über den alten, knorrigen Bäumen, die das kleine Cottage umgaben. Emma saß auf der Veranda, eingehüllt in eine flauschige Decke, Ihr Blick ruhte auf dem funkelnden Nachthimmel.

Sie liebte die Nächte hier, weg von der Hektik der Stadt, nur Sie, die Stille und das Heulen des Windes, der durch die Bäume pfiff. Aber in jener Nacht war etwas anders. Es war ein Geräusch, fast zu leise, um es zu hören, ein kaum wahrnehmbares Flüstern, das mit dem Wind kam. Es hatte beinahe etwas melodisches an sich, so als würde es die Monotonie des Windes durchbrechen wollen.

Zuerst strich sie es als Einbildung beiseite. Doch dann hörte sie es erneut. Ein kaum vernehmbares Flüstern, dass direkt auf ihrem Ohr zu liegen schien. Sie sah sich um, doch neben dem schummrigen Licht, das durch das Fenster des Cottages fiel, war nichts zusehen.

Das Flüstern wurde stärker, klarer. Emma versuchte, dem Klang zu lauschen, die Worte zu entziffern, die vom Wind herangetragen wurden. Es war wie ein Lied, melancholisch und euphorisch zugleich, das sie in seinen Bann zog. Sie konnte nicht widerstehen und folgte dem Flüstern in den Wald hinter dem Haus.

Das Mondlicht tauchte den Wald in ein geisterhaftes Schimmern. Emma spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufstellten, doch das Flüstern trieb sie weiter voran. Das Lied schien nun direkt in ihrem Kopf zu spielen, die Melodie pulsierte in ihrem Blut.
Es führte sie tiefer in den Wald, an einen einsamen Teich, dessen Oberfläche im mondhellen Licht glänzte. Neben dem Teich stand eine alte, verwitterte Weide, deren lange Äste bis zum Wasser reichten.

Näherte sie sich dem Baum, wurde das Flüstern lauter, dringender. Sie sah etwas am Fuße des Baumes, einen dunklen Haufen. Als sie näher trat, erkannte sie dunkle, verrottende Kleidungsstücke und daneben einen kleinen Spielzeugteddy. Ein Gefühl des Entsetzens breitete sich in ihr aus. Sie spürte den kalten Wind auf ihrer Haut, sah das schimmernde Wasser des Teiches und hörte das Flüstern – alles zusammen erzeugte eine schreckliche Atmosphäre.

Der Teddy, die Kleidungsstücke, das Flüstern, sie fand alles zusammen inmitten des Waldes bei diesem Teich. Es war als würde sich das Flüstern zu den Stimmen mehrerer Kinder formen, als würde das Murmeln des Windes ihre Geschichten erzählen. Aber wer waren sie? Was war ihnen widerfahren? Und warum hörte nur sie diese Stimmen in der Nacht?

Plötzlich durchschnitt ein scharfer Windstoß die Stille, und das Flüstern verstummte abrupt. Übrig blieb nur das unheilschwere Schweigen des Waldes. Emma stand da, erschrocken, erschüttert, ihren Blick auf den kleinen Teddy gerichtet. Sie fühlte eine tiefe Gänsehaut sich ihren Rücken hinab kriechen.

Emma kehrte an diesem Abend nicht mehr ins Cottage zurück. Das Flüstern in der Nacht hatte sie in seinen Bann gezogen, und von ihr blieb nur die Decke auf der Veranda, ein stummer Zeuge von Emmas verschwinden. Das Flüstern in der Nacht lebte weiter, während der Teich und der alte Weidenbaum die Geschichten von Emma und den verlorenen Kindern bewahrten.

Und so, wenn die Dunkelheit einfällt und der Wind durch die Bäume flüstert, erzählt er denjenigen, die bereit sind zuzuhören, die Geschichten derer, die nicht mehr da sind. Doch was geschieht mit jenen, die den Mut finden, den Flüsterstimmen der Nacht zu folgen?

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