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Gefrorenes Echo

Gefrorenes Echo

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Nacht für Nacht erfüllt ein unheimlicher Lärm das kleine, abgeschiedene Bergdorf. Ein seltsames Wiegenlied, komponiert aus sich überschlagenden Schreien und den unzusammenhängenden Gesprächen eines wartenden Publikums. Eine Panphonie, die im Kontrast zur sternenklaren Stille des eisigen Berges steht, auf dem das Dorf gebettet ist.

Bei den älteren Dorfbewohner weckte dieses Phänomen zwar unbehagen, doch sie schoben es beiseite, indem sie es als das „Gefrorene Echo“ bezeichneten – ein Label, das es auf magische Weise erträglich macht. Sie beteten einfach etwas länger, nickten bei bekanntem Lärm und murmelten ein stummes Stoßgebet, in der Hoffnung, dass der Morgen die durchdringenden Stimmen mit sich nehmen würde.

Die jüngere Generation fand jedoch wenig Trost in alten Dorflegenden und Schutzgebeten. Besonders nicht Leo, ein junger Dorfbewohner, der mehr als nur genervt war von der allnächtlichen Beschallung. Das Dröhnen der Stimmen hielt ihn wach, drückte ihm schmerzende Kopfschmerzen auf und ließ sein Blut kochen. An einem frühen Morgen, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, beschloss er, die Wahrheit über das „Gefrorene Echo“ ans Licht zu bringen.

Er stieg auf die Spitze des Berges, in der Hoffnung, die Quelle des Lärms zu finden. Dunkle Wolken hatten sich zusammengeballt und ein eiskalter Wind schien an seinen Knochen zu nagen. Als er oben ankam, verstummte die Welt um ihn herum. Doch in der Stille begannen die Stimmen ihren Chor. Sie waren klarer, unheimlicher. Leo folgte ihnen, seine Stirn gerunzelt, sein Herz klopfend.

In einer abgelegenen Höhle, verborgen von steilen Felswänden, fand Leo das Herz des Lärms – ein gefrorenes Echo in wahrster Bedeutung. Ein alter, eisbedeckter Projektor summte leise und warf bewegte Schatten an die kalte, steinerne Wand der Höhle. Die Bilder zeigten Menschen, Gespräche, Alltagsszenen – Leben. Sie sahen alle so real aus, so greifbar. Doch sie waren es nicht.

Leo bemerkte schnell, dass es Aufzeichnungen der Dorfbewohner waren. Die Stimmen, die er hörte, gehörten den Menschen, die er kannte, den Menschen, mit denen er aufgewachsen war. Er sah seine eigene Mutter, die mit ihm sprach, als er noch ein kleiner Junge war. Er sah seinen eigenen Vater, der ihm die Sterne auf dem hohen Berg zeigte. Er sah seine eigene, jüngere Version, wie sie durch die Dorfstraßen jagte.

Das Echo war kein Echo. Es war ein gefrorenes Spiegelbild ihrer selbst. Ein unerbittlicher Strom von Erinnerungen – gefangene Momente ihrer Existenz, gefroren in der Zeit und immer wieder abgespielt, wie eine unendliche Schleife von Vergangenheit. Angst ergriff Leo, als er auf den verlassenen Projektor starrte, der von Eisstrahlen bedeckt war. Er machte nur einen Schritt zurück und stolperte, fiel in den Schnee, starr vor Schreck.

Er verstand endlich das wahre Wesen des gefrorenen Echos. Es war nicht nur ein Flüstern aus der Vergangenheit, es war eine Warnung. Die Stimmen kamen aus der Maschine, um ihnen zu sagen, dass sie gefangen waren. Gefangen in ihrer Vergangenheit, nicht in der Lage, aus dem Kreis der Routine auszubrechen. Eine ewige Wiederholung ihrer selbst, in der sie niemals vorwärts oder rückwärts gehen konnten, gefangen zwischen dem, was einmal war und dem, was nie sein würde.

Das Dorf war still, als Leo am nächsten Morgen zurückkehrte. Aber er war anders. Vielleicht war er einfach nur gewachsen, auf eine Weise, die er nie erwartet hätte. Die Schreie des „Gefrorenen Echos“ hallten immer noch durch die Luft, doch sie trugen nun eine neue Bedeutung für ihn. Es war nicht nur der Lärm einer maschinellen Maschinerie. Es waren die Stimmen der Vergangenheit. Und die Vergangenheit, dachte Leo, soll einen lehren, nicht einen einsperren.

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