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Eiswind

Eiswind

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Gestern noch hatte der Sommerwind die Felder und Wälder mit seiner wärmenden, sanften Brise umschmeichelt. Heute lag eine schwere Kälte in der Luft. Ein eisiger Wind, der spontan und unaufgefordert kam, blies durch das kleine Städtchen Maple Hollow. Die Einwohner blickten neugierig zum Himmel, sofort war klar: Dieser Wind war anders. Er eisig, eindringlich, er fühlte sich falsch an.

Amanda, eine junge Frau, war gerade dabei, ihre Wäsche von der Leine zu nehmen, als sie das erste Mal den Kopf hob und den Eiswind an ihrem Gesicht spürte. Sie riss die Arme hoch, um die Kleider einzuholen, die vom Wind davongetragen wurden. Ein flüchtiger Schatten eilte an ihr vorbei, und sie bekam Gänsehaut. Nicht wegen der Kälte, die sich gerade eingeschlichen hatte.

Simultan fand der Gründer von Maple Hollow, der alte Mr. Johnson, gerade seine morgendliche Runde im centro. Er war schockiert, als er den plötzlichen Kälteeinbruch spürte. Jeder wusste, dass der Himmel an diesem Morgen nicht neutraler hätte sein können: weder bewölkt noch klar, einfach lieblos und makellos. Doch dann war da dieser eisige Wind, ein züngelnder Lichtblitz, der das Retro-Café durchzog und die Kundschaft in Schockstarre versetzte.

Spätestens jetzt hatte der Eiswind jeden im Städtchen erreicht. Aber es war mehr als nur ein seltsames Wetterphänomen. Und die Bewohner wussten das instinktiv. Alles erschien plötzlich unwirklich, verschwommen und kalt. Es folgten unausgesprochene Worte und besorgte Blicke, als ob eine nicht sichtbare Hexenhand alles und jeden beeinflusste.

Dann, plötzlich, schlug die Kirchturmuhr Mitternacht. Zeit stand still. Aber es war noch Tag. Und es kam noch schlimmer: Denn mit jedem Glockenschlag wurden die Schreie klarer. Die Schreie, die draußen, irgendwo im Wind hingen, wie betäubte Seelen, die um Hilfe schrien.

Die Einwohner von Maple Hollow wurden gezwungen, dem Schreien zuzuhören. Es war ein leidenschaftlicher, verzweifelter Klang, der buchstäblich durch Mark und Bein ging. Dieser Klang ließ Haare auf end stehen, gab Gänsehaut, ließ Herzen rasen und machte Hände zittern. Es war eine Art von Angst, die man nur aus Horrorgeschichten kannte

Dann, so pünktlich als ob er auf einen unsichtbaren Taktgeber reagieren würde, hörte der Wind auf. Er verschwand einfach. Keine Böen. Keine Brise. Nicht einmal ein Hauch. Einfach nichts.

Die Stille danach war fast erdrückend. Niemand sprach ein Wort. Keiner wagte es, sich zu bewegen. Alle, jeder einzelne Mensch, stand einfach da und lauschte der Stille. Einer Stille, die mehr Schreie sprach als der eisige Wind zuvor. Dann merkten die Menschen, dass etwas fehlte. Etwas Wichtiges. Die Schreie waren weg, aber sie hatten etwas mitgenommen. Jemanden.

Als sie zurück in ihre Häuser gingen, entdeckten sie das Furchtbare. Die Kinder waren weg. Alle von ihnen. Kein Kind war mehr übrig. Sie wurden vom Eiswind mitgenommen und gelangten in eine andere Welt. Eine Welt, die sie noch nie zuvor gesehen hatten und wahrscheinlich auch erstmal nicht zurückkehren würden.

Das alles passierte hier in Maple Hollow. In der unveränderten Stille, im kalten Herz des Sommers, wo der Eiswind blies. Man sagte bis heute, dass sich die Temperatur plötzlich ändert und ein kalter Hauch durch die Stadt weht, wenn der Eiswind zurückkehrt. Dabei hört man die fernen, gedämpften Schreie der verschwundenen Kinder im Wind.

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