jeden Tag eine Geschichte
Der Garten der verlorenen Zeit

Der Garten der verlorenen Zeit

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Am Ende einer schlammigen Trampelpfad, umgeben von dunklen und unheimlich wogenden Bäumen, befand sich ein verwildertes Anwesen, auf welchem der Garten der verlorenen Zeit blühte. Die Zeit selbst schien verstreut, sich in den verrottenden Laubhaufen zu verkrümeln, still zu stehen in den zerrissenen Spinnweben zwischen nackten Ästen.

Eine gesichtslose Statue begrüßte jeden Besucher – ihre Züge waren vom Regen ausgewaschen und von der Zeit gefressen. Die Geranien, Lilien und Rosen verströmten einen betäubenden Duft, der die Nase kitzelte und den Verstand verwirrte. Aber den größten Teil des Gartens beherrschten die fleischfressenden Pflanzen – sie standen in gruseliger Stille da, Abertausende von ihnen, bereit zu töten und zu fressen.

Und dann war da Hannah, ein junges und neugieriges Mädchen aus dem Dorf. Von den Schauermärchen des alten Gärtners angezogen, wagte sie sich eines Nachts in den Garten und schaute sich fasziniert die blutigen, fleischfressenden Pflanzen an.

Nur ein winziger Ausrutscher war nötig – ein falscher Schritt auf dem matschigen Boden und sie verlor das Gleichgewicht. Sie fiel direkt in die offenen Mäuler einer fleischfressenden Pflanze. Ihre Schreie gingen in der Stillheit des Gartens unter, ihre Tränen verschwanden in der gierigen Pflanze. Dann gab es nur noch… Stille.

Im Morgengrauen wurde Hannahs Verschwinden bemerkt. Eine Suchaktion wurde organisiert, aber keine Spur von ihr wurde entdeckt. Mit der Zeit lebte das Dorf weiter und vergaß das neugierige junge Mädchen. Nur der Garten erinnerte sich.

Und so vergingen Jahreszeiten und Jahre, manchmal verirrte sich ein Wanderer in den verwilderten Garten. Jedes Mal wurden sie von den gefräßigen Pflanzen verschlungen. Bei jedem Opfer wuchsen die Pflanzen stärker, wurden größer und der Garten verwandelte sich mehr und mehr in einen Ort des Grauens.

In der Bäckerei des Dorfes erzählte man von den verschwundenen Menschen und die Ältesten warnten die jungen Leute vor dem Garten. Aber der Zauber des Gartens zog immer wieder Neugierige an. Es schien, als würde der Garten sie einladen, ihre Neugier nutzen, um sie zu verführen und zum Schluss ihre Zeit verschlingen.

Die Rathausuhr schlug Mitternacht, der Wind brachte den betäubenden Duft der blutigen Pflanzen in die Dorfstraßen und alles war ruhig. Doch dann hörte ein junger Dorfbewohner ein Flüstern, eine Einladung, die ihn anlockte. Und genau wie Zehn vor ihm, ging auch er in den Garten der verlorenen Zeit. Einfach so. Als ob die Zeit, die dort verloren ging, ihn rief und seinen Namen flüsterte.

Er war der Nächste, der die Zeit verlor und von ihr verschlungen wurde.

Vielleicht hörte er in den letzten Sekunden seines Lebens das Kichern einer Pflanze oder das Rauschen des Windes, triumphierend, siegreich. Aber wird man jemals erfahren, was wirklich in diesem Garten geschieht? Oder bleibt es ein Ort, der Menschen verschluckt und ihre Zeit für immer verschlingt?

Vielleicht wartet der Garten gerade jetzt auf sein nächstes Opfer. Vielleicht flüstert er gerade jetzt wieder einen Namen in den Wind… deinen Namen?

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