Lena betrat ihr neues Zimmer. Umzugskartons waren in jeder Ecke gestapelt. Sie seufzte, ihre Eltern hatten unlängst ein altes viktorianisches Haus am Rande der Stadt gekauft. Abseits von ihren Freunden, weit entfernt von allem, was ihr vertraut war. Doch besonders unheimlich war das große, rostige Tor am Ende des Gartens, das schon Jahrzehnte alt zu sein schien.
Nach dem Auspacken begann sie, ihr neues Reich zu erkunden. Als sie den Garten erreichte, zog sie das mächtige Tor in ihren Bann. Sie konnte nicht widerstehen, es zu berühren, obwohl ein unangenehmes Gefühl sie überkam. Sie schob es vorsichtig auf und trat hindurch, um sich den dahinterliegenden Wald genauer anzusehen.
Sofort spürte sie eine Veränderung. Der Wald schien auf einmal lebendiger, die Farben waren intensiver, die Geräusche lauter. Ein Pfad führte sie tiefer in diese seltsame Welt und am Ende des Pfades stand ein kleines Mädchen.
„Wer bist du?“, fragte Lena. „Ich bin Emily“, antwortete das Mädchen traurig. „Seit ich durch das Tor gegangen bin, kann ich nicht mehr nach Hause zurückkehren. Bitte, hilf mir.“
Lena war verängstigt, aber auch entschlossen, Emily zu helfen. Sie nahm ihr die Hand und führte sie zurück zum Tor. Als sie hindurchgingen, wandelte sich der Wald wieder in seine vertraute, graue Gestalt zurück. Emily verschwand. „Emily?“, rief Lena, doch es kam keine Antwort.
In der nächsten Woche suchte Lena jeden Tag nach Emily. Sie fragte bei Nachbarn, schaute in der Stadt, doch niemand hatte je von einem Mädchen namens Emily gehört. Entsetzen ergriff sie, als sie in alten Zeitungsarchiven eine Schlagzeile fand: „Vor 50 Jahren: Emily Winter verschwunden. Zuletzt gesehen am Rand des Waldes“.
Die nächsten Monate verbrachte Lena damit, das Tor und den Wald wieder und wieder zu durchqueren, in der Hoffnung, Emily zu finden. Doch jedes Mal, wenn sie durch das Tor trat, war der Wald nur Wald, und Emily blieb verschwunden.
Eines Tages erschien Emily plötzlich vor ihr. „Lena, du musst aufhören zu suchen. Du kannst mich nicht retten“, seufzte Emily. „Jedes Mal, wenn du das Tor überquerst, ziehst du das Unheil näher an deine Welt.“
Mit zitternden Händen schloss Lena das Tor und drehte sich um, mit Tränen in den Augen. Emily war weg, doch der Wald hatte seinen Zauber behalten. Sie wusste jetzt, dass sie das Tor niemals wieder öffnen durfte.
Die Jahre vergingen und Lena vergaß Emily nie. Sie warnte jedes Mal eindringlich, wenn ihre Freunde das Tor berühren wollten. Niemand verstand sie wirklich, doch sie ließ nicht nach. Das Tor zur Anderwelt blieb geschlossen. Doch manchmal, wenn sie alleine in ihrem Zimmer saß und in den Garten blickte, sah sie Emily am Tor stehen und winken, ein sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht – ihr ständiger und trauriger Reminder für die Ungeheuerlichkeiten, die die andere Seite dieses Tores barg.