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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

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Sie war eine bekannte Streamerin, in jeder freien Minute live auf Twitch, und spielte Spiele oder stellte Makeup-Tutorials vor. Aber ihre wahre Leidenschaft lag in der Entdeckung unerklärlicher Phänomene, Geistergeschichten und urbaner Mythen. Eines Spatabends stieß sie auf eine Erzählung. Eine Melodie, genannt „Das Lied des Todes“. Wer es hörte, so hieß es, würde nicht länger als 24 Stunden leben.

„Spannend, nicht wahr?“, teilte sie ihren Followern mit und klickte auf „Spielen“, hatte aber die Kopfhörer noch nicht aufgesetzt. Es kam ein kurzer Stromausfall, der Bildschirm flackerte. Etwas hatte sie davon abgehalten, dem Todeslied zu lauschen. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus.

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und lachte es weg. „Scheint, als hätte jemand Angst, dass wir das Lied hören“. Doch trotz ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit konnte sie das unangenehme Gefühl nicht abschütteln. Einer nach dem anderen verließen ihre Follower den Stream und sie war alleine, alleine mit ihrem Unbehagen.

Sie legte sich schlafen und starrte auf ihr reflektierendes Handydisplay. Plötzlich begann ihre Playlist zu spielen. Ein grausames, dissonantes Stück. Sie blickte auf das Display. Es war das Lied vom Anfang des Streams. Erschrocken riss sie die Kopfhörer von den Ohren, aber die Melodie spielte weiter. Nun kam der Klang nicht mehr aus den Kopfhörern, sondern schien irgendwo in ihrem Kopf zu sein, als ob sie nur in ihrem eigenen Geist existierte.

Die Angst wuchs mit jeder verstreichenden Sekunde. Sie konnte den Atem in ihrer Kehle spüren, konnte die frostige Kälte auf ihrer Haut spüren. Jede Zelle in ihrem Körper schien vor Angst zu schreien, als ob sie auf etwas Schreckliches warten würde.

Als sie versuchte, das Handy auszuschalten, passierte nichts. Der Bildschirm war leer, keine App war zu sehen, aber das Lied hörte nicht auf zu spielen. Langsam, methodisch, zog es sie hinein und umhüllte sie. Schlaf war unmöglich. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Bilder, schreckliche Szenen von Tod und Verwüstung, die mit der Melodie synchronisiert waren.

22 Stunden vergingen, sie konnte die Uhr auf ihrem Handy sehen, rot und bedrohlich. Die Melodie ging weiter. An Schlaf war nicht zu denken. Sie hatte das Gefühl, dass das Grauen sie sofort überfallen würde, sobald sie die Augen schließen würde.

Vollkommen erschöpft nahm sie ihre letzte Energie zusammen und nahm einen Livestream auf. Da war etwas in ihren Augen, etwas, das jedem, der sie ansah, eine kalte Gänsehaut über den Rücken jagte. Mit zittriger Stimme sagte sie: „Folgt mir nicht… Hört nicht… das Lied…“ und kollabierte dann, mitten während der Übertragung.

Die Follower, die sie geliebt hatten, die ihr zugeschaut und zugehört hatten, blieben schockiert zurück. Das letzte, was sie von ihr sahen, war ihr Gesicht, von Schmerzen verzerrt, während sie bewusstlos auf den kalten, harten Boden fiel. Niemand weiß, was anschließend passierte. Niemand weiß, ob das Lied wirklich existiert, oder ob es nur eine weitere von vielen urbanen Mythen ist. Sie alle wissen nur, dass sie sie verloren haben, verloren an ein Lied, das niemand zu hören wagte.

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