Mitten in der Nacht wurden Lenas Lider geöffnet durch einen dünnen Strahl Licht, der sich durch den kleinen Spalt ihrer Vorhänge schmuggelte. Ihr Zimmer war in Dunkelheit gehüllt, doch dieses helle Funkeln war zu ungewöhnlich, um es zu ignorieren. Langsam setzte sie sich auf und blickte zum Fenster. Nebenan, in dem alten, leerstehenden Haus, zuckte ein Licht.
Sie hatte immer gewusst, dass dieses Haus unheimlich war. Abgesehen von den hässlich ausgetretenen Treppen und dem moosbefallenen Dach, hatte es etwas Unangenehmes an sich, etwas, das Lena jedes Mal schaudern ließ, wenn sie daran vorbei ging.
Lena folgte dem Licht mit ihren Augen und versuchte, noch mehr davon zu entdecken. Und dann sah sie es. Eine Gestalt, nur für einen flüchtigen Moment, pendelte es vor dem Fenster hin und her und verschwand mit der Dunkelheit. Ohne es zu merken, hielt sie den Atem an.
Wissend, dass ihr keine Ruhe mehr finden würde, stand sie auf und schlüpfte in ihre Boots. Sie wollte es genauer wissen. Mit einem kompakten, kaum benutzten Taschenlampe tippte sie auf den schäbigen Holzlattenzaun, der die Grenze zwischen ihrem friedlichen Zuhause und dem unglücklichen, dunklen Haus nebenan kennzeichnete.
Als sie das baufällige Haus betrat, konnte sie den erfahrenen Geruch von morschem Holz und etwas Tieferem, Dunklerem, wahrnehmen. Ihr Atem stockte, der Rahmen des Hauses knarrte, und plötzlich fiel der Strom aus.
Lena wollte gerade ihre Taschenlampe holen, als sie bemerkte, dass es im Zimmer nicht vollständig dunkel war. Ein schwaches Leuchten war in der dunklen Ecke des Zimmers zu erkennen. Etwas zog Lena geheimnisvoll zu diesem Gleis. Sie trat näher und bemerkte einen alten Spiegel, der noch unversehrt schien. Das Leuchten, das nun deutlicher zu erkennen war, kam aus seiner Erscheinung heraus.
Unzählige Fragen sammelten sich in Lenas Kopf, als sie sich dem Spiegel näherte. Sie streckte ihre Hand aus, um den Staub abzuwischen, und dann sah sie etwas darin. Es war sie selbst, aber doch anders, irgendwie … verdorben, verdreht. Ihre Spiegelbild-Augen waren völlig schwarz, ihr Mund öffnete sich zu einem breiten, finsteren Lächeln.
In einem Zug der Furcht stolperte sie rückwärts, weit weg von dem schrecklichen Spiegelbild. Aber als sie den Spiegel wieder ansah, war da nichts. Nur ihr normales Spiegelbild starrte sie an, verwirrt und ängstlich wie sie selbst.
Lena wimmerte und rannte aus dem Haus, das verfluchte Ding hinter sich lassend. Sie rannte und rannte, bis sie zu Hause war, sicher unter der Bettdecke. Aber selbst dann konnte sie das lächelnde schwarze Gesicht im Spiegel nicht vergessen.
Der Vorhang in ihrem Zimmer wurde sanft in den Laternenlichtschein verschoben. Noch immer lag das Haus in völliger Dunkelheit. Zum allerersten Mal rollten dunkle Tränen aus ihren Augen und ihre Atmung beschleunigte sich, als sie realisierte: Die Dunkelheit war nicht nur in dem Haus nebenan erwacht, sie hatte sie mitgenommen. Und sie war nicht alleine.