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Seelendieb

Seelendieb

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Es war eine Nacht wie jede andere in der pulsierenden Stahlstadt. Die scharfen, kalten Linien der Hochhäuser funkelten unter dem mondhellen Himmel, die Straßen wimmelten sowohl von Menschen als auch von digitalen Projektionen. Doch inmitten dieses urbanen Schauspiels lauerte etwas Unerklärliches.

Nora, eine vielbeschäftigte Software-Ingenieurin, kämpfte sich durch den virtuellen Datenfluss. Ihre Finger flitzten über die holographischen Tasten. In einem Fenster am Rande ihres Blickfelds zeigten die Stadtnachrichten die üblichen Schlagzeilen: Cyberkriminalität, politische Schikanen, das neueste Pop-Idol. Doch eine Geschichte stach besonders ins Auge – ein mysteriöses Verschwinden. Ein Mann, scheinbar in guter gesundheitlicher und geistiger Verfassung, vermisst. Es war der vierte Fall in dieser Woche.

Die Details waren spärlich, nur ein gemeinsames Merkmal verband sie: Alle waren in der digitalen Welt aktiv. Nora zuckte mit den Schultern. Vermutlich nur eine weitere Sensationsstory. Doch eine unerklärliche Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Sie versuchte es zu ignorieren und konzentrierte sich auf ihre Arbeit.

Die Nacht kroch dahin. Es war spät, als sie ihre Arbeit abschloss und ihre digitalen Werkzeuge herunterfuhr. Die holographischen Bildschirme jaulten auf und verschwanden, unsichtbare Ströme elektronischer Energie erstarben. Sie sah auf die Uhr. Abendessen – allein. Wieder. Mit einem Seufzen erhob sie sich und verließ ihr kleines Studio.

Als die Tür hinter ihr zuschlug, bemerkte sie eine seltsame Stille. Die Stadt, die nie schlief, schien beinahe… tot. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen und machte sich auf den Weg in die nächste Cyber-Kantine.

Im warmen Schein der Leuchtstoffröhren verblasste der Schweiß auf ihrer Stirn. Sie bestellte ihr Essen und ließ ihre Gedanken schweifen. Das Display ihrer kontaktlinsen-ähnlichen Augenprothese blinkte auf, eine eingehende Botschaft von einem unbekannten Absender.

Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab, als sie den Text las: „Sie wissen von dir, lauf… bevor es zu spät ist.“ Ein plötzliches Kribbeln in ihrer Nahtstruktur, ein Gefühl, als würde ihre Seele aus ihrem Körper gerissen. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gaben nach und sie sank auf den Boden.

Die Welt um sie herum verschwamm, die Farben verdunkelten sich. Das letzte, was sie sah, war das gespenstische Glühen ihrer Prothesenkontaktlinse, bevor Dunkelheit sie umhüllte.

Am nächsten Tag nahm die Stadt kaum Notiz von der fünften Vermisstenmeldung der Woche, alle Betroffenen aktiv in der digitalen Welt. Nur eine leere Cyber-Kantine. Ein Stuhl, umgeworfen. Eine unbezahlte Rechnung. Und irgendwo, in der Dunkelheit der digitalen Äther, lauerte der Seelendieb, auf der Jagd nach seinem nächsten Opfer.

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