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Ruinenstadt

Ruinenstadt

8

Die Welt lag in Stille, während Lydia durch die kargen Gassen der verlassenen Stadt streifte. Häuser, einst mächtige Symbole menschlichen Triumphes, waren zu gespenstischen Schatten ihrer glorreichen Vergangenheit verkommen. Einschusslöcher pockten die rostigen Metalltüren und bizarre Graffiti bedeckten brüchige Wände. Sie wussten, dass sie besser das Licht der Nachmittagssonne gemieden und irgendwo Schutz gesucht hätte, doch eine unbeschreibliche Neugierde zog sie immer tiefer in das Herz der verwüsteten Stadt.

Lydia hielt inne, ihr Atem gefror in der eisigen Ruhe, als sie vor einem Gebäude stand, das noch großartiger, noch eindrucksvoller war als die anderen. Das Gebäude schienen eine alte Bibliothek oder so etwas Ähnliches zu sein, leergefegt, bis auf die staubigen Überreste von Büchern, die mit Worten gefüllt waren, die niemand mehr las. Im Inneren flüsterte die Dunkelheit unausgesprochene Geheimnisse, deren Echo sich wie eine düstere Melodie um die verbliebenen Regale wickelte. Sie fühlte sich unwiderstehlich zu diesem Ort hingezogen, als ob etwas sie locken würde. Ihre Finger glitten über die blinden Einbände der verlassenen Bücher, berührten die Vergangenheit, die schon lange verloren gegangen war.

Lydia stieß auf ein bescheidenes altes Buch. Es war mit einer dicken Schicht Staub bedeckt und sie konnte den Titel, der sich aus zerbraustem Leder hob, kaum erkennen. Sie rieb behutsam über das Buch und der Staub löste sich, als ob er sie erwarten würde. Er enthüllte den Titel begierig, als wolle er ihr eine lange gehütete Geschichte erzählen. ‚Die Chronik der verlassenen Stadt‘ – diese Worte standen spiegelverkehrt im unscheinbaren Buch. Ohne zu zögern, öffnete sie das Buch. Die Worte auf den verwitterten Seiten sprangen sie an, lauter und dringlicher als irgendetwas, was sie jemals gelesen hatte.

Es war eine Geschichte über eine Stadt, genau wie diese, die einst von Menschen bewohnt, aber wegen eines schrecklichen Fluches verlassen wurde. Nachdem sie den Fluch unwissentlich ausgelöst hatten, flohen die Bewohner aus ihrer Stadt, ihrem Zuhause. Einigen war es gelungen, der Katastrophe zu entkommen, andere wurden von dem Schrecken verschlungen, der durch ihre Straßen wogte. Sie allein blieben, die Geister, im ewigen Exil, gejagt von ihren dunkelsten Albträumen.

Als Lydia aufblickte, fiel ihr Blick auf die reglose Statue eines Mädchens. Sie trug ein Gewand, das Geschichte und Geheimnisse verbarg. Ihre Augen, obwohl aus Stein, schienen sie anzuflehen. Ein kalter Schauer lief Lydia über den Rücken. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie fühlte sich unwohl, unheimlich unwohl. Plötzlich hörte sie ein flüstern, ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern, das in den Wind träufelte. Lydia erstarrte. Ihr Körper sträubte sich und ihr Verstand schrie auf.

Das Flüstern wurde lauter, die Worte deutlicher und klarer. Es waren dieselben Worte, die sie vorhin gelesen hatte. Sie konnte nicht entkommen, konnte sie nicht ignorieren. Sie griffen nach ihr, ergriffen sie, zogen sie in ihre grausamen Umarmungen, schlossen sie immer tiefer in das Herz der verlassenen Stadt ein. Als Lydia in den Spiegelsaal des Gebäudes kam, starrte sie in die leeren Gesichter der ausgeschlossenen. Sie konnte nicht anders, als zu schreien.

In diesem Augenblick durchdrang ein furchtbarer Schrei, der der Stille einen Strich durch die Rechnung machte, die verlassene Stadt, die alles hörte und doch nichts preisgab. Ein Geist hatte in der Ruinenstadt ein neues Opfer gefunden. Lydia’s Stimme verband sich mit dem Chor der Vergessenen, als die lachenden Gesichter der Statuen sie in den zerfallenden Ruinen aufnahmen und die dunkle Stadt weiterhin darauf wartete, weiter zu erzählen.

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