jeden Tag eine Geschichte
Das Flüstern im Nebel

Das Flüstern im Nebel

1196

Will kauerte um das Lagerfeuer herum, seine Arme um seinen zitternden Körper geschlungen. Ob es die Kälte des Nebels war, der ihn zum Frösteln brachte oder die unheimlichen Geräusche, die aus der Undurchsichtigkeit kamen, konnte er nicht sagen.

Er sollte eigentlich hier nicht sein. Dieser Ort war nur eine Legende, eine alte Spukgeschichte, die ältere Kinder kleineren Kindern erzählten, um sie zu ängstigen. Aber hier war er, im Herzen des verbotenen Waldes, umgeben von einem dichten Nebel, der wie ein kalter feuchter Mantel auf seiner Haut lag.

Ein leichtes Flüstern durchbrach die Stille, kaum hörbar. Es rief seinen Namen. Will. Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch. Es war nur seine Einbildung. Nur seine Angst. Nur das Flüstern des Windes im Geäst der Bäume.

Aber dann hörte er es wieder. Lauter diesmal. Unverkennbar. Will. Er sprang auf, blickte sich um, suchte nach der Quelle des Flüsterns. Doch der Nebel verschluckte alles. Er konnte kein Gesicht sehen. Keinen Körper. Nur das Flüstern. Die Kälte. Der Nebel.

Das Flüstern wurde energischer, fast verzweifelt. Will. Seine Handflächen wurden nass. Sein Herz klopfte wild in seiner Brust, ein verzweifeltes Morsezeichen an den Rest seines Körpers. Lauf. Blieb er hier stehen, wusste er, dass er jämmerlich krepieren würde. Er hob einen Fuß, dann den anderen, seine Schritte verzweifelt auf der Suche nach festem Boden im ungewissen Nebel.

Das Flüstern wurde lauter, drängender. Will. Sein Name hallte in den bloßen Baumkronen wider, tanzte auf den stummen Wellen des Nebels. Er rannte nun, nicht wissend, in welche Richtung er ging, nur dass er vor dem Unbekannten fliehen musste, das in dem Nebel auf ihn lauerte.

Er rannte, bis seine Beine vor Erschöpfung nachgaben und er mit einem dumpfen Aufprall auf den nassen Boden fiel. In der Ferne hörte er das Flüstern wieder, leise und gedämpft, als ob es Meilen entfernt wäre statt nur ein paar Hände. Will.

Er schloss seine Augen, wartete auf das Ende, das unausweichlich kam. Doch statt des kalten Anblicks des Todes fühlte er eine sanfte Berührung an seiner Wange, wie die eines geliebten Freundes. Mühsam öffnete er seine Augen und sah in die freundlichen Gesichtszüge eines alten Mannes.

„Wer… bist du?“ fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich bin was du in der Dunkelheit gekommen bist, zu finden, Will“, antwortete der alte Mann mit einem weisen Lächeln. „Ich bin deine Furcht, deine Hoffnung, dein Ende und dein Anfang.“

Im nächsten Moment war der alte Mann verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Alles, was zurückblieb, war das Flüstern im Nebel. Will stand langsam auf, seinen Blick auf den Pfad gerichtet, der vor ihm lag. Das Flüstern im Nebel rief seinen Namen nicht mehr. Es hatte bekommen, was es wollte. Will fühlte eine seltsame Ruhe über sich kommen und wusste, dass nichts ihn mehr in der Dunkelheit ängstigen würde. Denn er war das geworden, was das Flüstern wollte. Nur was – das blieb ihm noch verborgen in dem undurchdringlichen Nebel.

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