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Dunkelflut

Dunkelflut

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Als das Internet auf meinem Handy ausfiel, befand ich mich gerade mitten in einem Bereich der Stadtbibliothek, den ich noch nie zuvor besucht hatte. In den Regalen standen alte Karten und globige Wälzer, deren Papier nach Alter und Geheimnissen roch. Fasziniert strich ich mit den Fingern über die Lederrücken der Bücher und zog rein zufällig ein Exemplar heraus. Der Titel war in altertümlicher Schrift gehalten und kaum entzifferbar, jedoch erweckte etwas in dem Buch meine Neugier und ich setzte mich in die nächstgelegene Ecke.

Die ersten Zeilen drehten sich um eine alte Legende, die sogenannte „Dunkelflut“. Demnach sollte sie alle hundert Jahre einfallen und das Land mit einer geheimnisvollen Dunkelheit überschwemmen, die unbekannte Wesen aus einer anderen Welt mit sich brachte. Es klang absurder, als alles was ich je gelesen hatte, doch ich war fasziniert und las weiter.

Die Geschichte ging auf eine Warnung aus dem 16. Jahrhundert zurück – eine Prophezeiung in lateinischer Sprache. Übersetzt hieß es: „Wenn die Uhren dreimal zwölf Stunden schlagen und der Himmel sich schwarz färbt, wird Dunkelflut kommen und das Land in Dunkelheit tauchen. Die, die überleben wollen, müssen das Licht finden, das in der Dunkelheit verborgen liegt.“

Aber als ich weiterlas, wurde es immer seltsamer. Ich fand Notizen von Menschen, die behaupteten, Zeugen der Dunkelflut geworden zu sein. Sie schilderten Erlebnisse, von dunklen Schatten, die Nähe suchten, von Gegenständen, die in unerklärlicher Dunkelheit verschwanden, und von lautlosen Schreien, die eine klaustrophobische Stille versetzten.

Ich war verblüfft, verängstigt und neugierig. War das nur ein morbider Scherz oder eine finstere Fantasie? Ich wusste es nicht. Aber ich wollte es herausfinden.

Als ich das alte Buch zuklappte und mich wieder meiner Umgebung zuwandte, wurde mir schwindelig. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte, und ich blinzelte, um zu versuchen, mein Sichtfeld zu klären. Doch statt zu verschwinden, wurden die dunklen Flecken dichter, bis sie meinen gesamten Sehsinn überdeckten. Als ich aus tiefster Dunkelheit auftauchte, lag die Bibliothek in völliger Finsternis. Ich konnte nichts sehen, nichts hören, und plötzlich war das Gefühl von Kälte und Stille überwältigend.

Plötzlich kam das unheimliche Flüstern zurück – der Lärm des Schweigens, der schlimmer war als jeder Lärm. Es war da, in den tiefsten Winkeln des Raumes, ein Lärm, den man nicht hören, sondern nur fühlen konnte. Etwas schlich und kroch um mich herum, tastete, suchte. Die Legendenvon der Dunkelflut gingen mir durch den Kopf. Denn dort draußen, im Dunkeln, dort war etwas. Irgendetwas bewegte sich, irgendetwas lauerte. Und dann spürte ich sie – die leise, aber beständige Berührung. Kalte, glibberige Finger, die meine Hand streiften. Schattenfinger, die langsam meine Hand ergriffen und eng umschlossen.

Ich wünsche, ich könnte Ihnen sagen, was danach passierte. Doch meine Erinnerung daran verschwimmt und wird immer vager. Das letzte, was mir in Erinnerung blieb, war das Knacken einer Uhr, die Mitternacht schlug und der letzten Schlag hallte unnatürlich lange nach.

Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich auf dem Boden der Bibliothek, von der morgendlichen Sonne erwärmt und umgeben von normaler Stille. Das gewöhnliche Leben ging weiter, als sei nichts geschehen. Doch als ich versuchte, mich zu erheben, spürte ich zitternde Hände und fand in meiner Tasche ein kleines Stück Papier, das mit alten Symbolen verziert war. Etwas hatte mir eine Nachricht hinterlassen, eine Nachricht aus der Dunkelheit, die ich nun entschlüsseln muss. Die Dunkelflut war real und ich befürchte, sie wird wiederkommen.

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