jeden Tag eine Geschichte
Wispern aus der Kälte

Wispern aus der Kälte

Ben zog seinen Schal enger um seinen Hals und stolperte durch den nebligen Schnee. Es war so kalt, dass er seinen eigenen Atem sehen konnte. Die alte Hütte, wo seine Freunde sich versammelt hatten, lag nur ein paar Meter entfernt. Funkelnde Lichter leuchteten schwach durch die leichten Schneewehen.

Er erreichte die Holztür und drückte sie auf. Wärme und Gelächter schwappten über ihn hinweg, aber Ben’s Augen wurden von dem alten Radio, welches in einem Eck des Raumes saß, angezogen. Es war ein altes Ding, blassgrün und mit Rostflecken übersät. Ruckartig sprang es an, knisterte und knackte und begann zu wispern.

„Zu kalt … zu kalt …“, war die kaum hörbare Botschaft, die aus den Lautsprechern kam. Ben runzelte die Stirn und versuchte, die Worte zu entziffern, während er sich dem alten Gerät näherte.

„Hörst du das?“, fragte er seine Freunde. Sie schauten auf, Stirnrunzeln und fragende Blicke wechselten sich ab. Einige zuckten nur mit den Schultern und wandten sich wieder ihren Gesprächen zu.

Die flüsternde Stimme aus dem Radio wurde immer lauter und drängender. „Zu kalt … Zu kalt …“. Ben konnte den eigenartigen Klang kaum drechseln, es war, als würde die Stimme direkt aus der Kälte selbst kommen.

Plötzlich wurde das Licht schwächer, als würde eine unsichtbare Hand den Dimmer herunterdrehen. Die Temperatur sank und die Atemschwaden der Freunde wurden sichtbar in der Hütte. Ein Schauer lief Ben über den Rücken.

„Jemand sollte das Radio ausschalten!“, rief einer der Freunde, zitternd vor Kälte. Aber Ben konnte sich nicht bewegen. Ein nicht enden wollendes Grauen hatte ihn ergriffen. Es war, als wäre die Stimme aus dem kalten Äther für ihn bestimmt.

„Zu kalt … Hilfe … ich kann nicht atmen …“, wurden die Worte aus dem Radio immer verzweifelter. Und dann, war es plötzlich still. Der Raum erfüllte sich mit einer drückenden Stille, die durch nichts unterbrochen wurde.

Ben fiel auf die Knie, Stille und Dunkelheit lähmten ihn. Vielleicht war es die extreme Kälte oder die Tatsache, dass irgendwas, irgendwo da draußen in der Kälte war und um Hilfe rief. Vielleicht war es beides.

Als das Licht schließlich zurückkehrte, gab es keine Spur mehr von dem wispernden Radio. Nur der schwache Geruch von brennendem Kunststoff hing in der Luft. Ben’s Freunde schauten ihn irritiert an, niemand außer ihm hatte die Worte gehört, kaum jemand hatte die Kälte gespürt.

Es würde Wochen dauern, bis die Polizei die Leiche eines vermissten Mannes in einer Schneewehe nicht weit von der Hütte entfernt finden würde. Der Todeszeitpunkt würde auf die Nacht der Party geschätzt, die Todesursache: Erfrierung. Die Nachricht würde in der Stadt Wellen schlagen, so etwas passierte hier nicht oft.

Ben würde nie wieder eine kalte Nacht erleben, ohne an die verzweifelte Stimme zu denken, die aus dem Radio gekommen war. Jedes Mal, wenn er die Kälte auf seiner Haut spürt, hört er das Wispern wieder.

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