jeden Tag eine Geschichte
Wächter der Nacht

Wächter der Nacht

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Sie nannten ihn den Wächter der Nacht. Jeder in dem kleinen, isolierten Dorf wusste um seine Existenz, doch niemand sprach offen darüber. In “Brendale” herrschte ein ungeschriebenes Gesetz: Nach Einbruch der Dunkelheit blieben die Türen verschlossen, die Fenster fest verrammelt und die Vorhänge sorgsam zugezogen.

Eines Abends – Claire, eine neueinziehende Großstädterin, erfuhr von der düsteren Legende. Mit einer skeptischen Miene und einem leichtfertigen Lächeln ignorierte sie die warnenden Worte der Dorfbewohner. Sie beschloss einen nächtlichen Spaziergang zu wagen, um das nächtliche Dorf kennenzulernen und die Gerüchte als einfache Bauernängste abzutun.

Gekleidet in eine dicke Jacke, stieg Claire die knarzenden Stufen ihrer Haustreppe hinab und durchquerte die alte, rostige Gartenpforte. Der kalte Wind, der sanft durch die leeren Straßen wehte, hinterließ eine unbehagliche Gänsehaut. Das düstere Licht der wenigen Straßenlaternen warf lange und unnatürliche Schatten. Claire wandte sich nach links, ihren Blick fest auf die weit entfernte Kirche gerichtet. Ihre feste Absicht, sich in der dunklen Nacht nicht einzuschüchtern lassen schien jedoch zu schwinden, als sie ein dumpfes, bedrohliches Rascheln vernahm.

Schlagartig hielt sie inne, das Herz raste. Ein rasiermesserscharfer, kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie reckte den Kopf, spitzte ihre Ohren. Da war es wieder, dieses laute Rascheln, direkt hinter ihr. Ein prüfender Blick über ihre Schulter eröffnete ihr nichts als dem flackernden Licht der Straßenlaterne, das auf die leere Straße fiel, nur unterbrochen durch das hereinbrechende Dunkel.

Sie beschleunigte ihren Schritt, die einst fesselnde Neugier nun mit unnachgiebiger Angst ersetzt. Ungesehen, als ob sie durch einen dunklen Nebel gingen, nahmen Claires Augen obskure Gestalten wahr. Unbewusst hielt sie die Luft an. Das Rascheln wurde lauter, die Schritte hinter ihr synchron zu ihren eigenen.

Ein durchdringendes, klares Geräusch ertönte. Schritte. Sie keuchte, ihre Beine bewegten sich automatisch. Sie rannte. Das Gefühl des Verfolgtwerdens verursachte ein erstickendes Gefühl in ihrer Brust. Die sanfte Beleuchtung der Straßenlaternen verschwand, als sie eine unbekannte, dunkle Gasse betrat.

Sie stolperte, ein schmerzhafter Aufprall. Innerhalb von Sekunden war alles still, nichts bewegte sich. Tappend zog sie ihr Handy hervor, die einzige verfügbare Lichtquelle.

Und dann, das endlose Grauen. Im künstlichen Licht erkannte sie ihn, den Wächter der Nacht. Eine groteske, schattenhafte Figur, halb Mensch, halb Bestie. Seine klaffenden Augenhöhlen gähnten sie an, sein Maul war ein dunkles Loch voller unsagbarem Schrecken. Es zerrte an ihrer Seele, sie wollte schreien, konnte aber keinen Laut von sich geben.

Theoretisch war Claire nie wieder gesehen. Ihr Haus stand leer und das nachtblaue Smartphone lag in einer dunklen Gasse. Es herrschte ein neuer Respekt vor der Dunkelheit, auch unter den skeptischsten Dorfbewohnern. Die Geschichte von Claire, der totgeweihten Städterin, wurde zu einer stillen Ermahnung jedes Flüsterns über den Wächter der Nacht. Wer immer er war, was immer er wollte, er war hier, unter ihnen, ein Schatten in der Dunkelheit.

Und Brendale schlief wieder. Seine Bewohner wachten wieder auf, standen wieder auf, lächelten wieder und schwiegen wieder. In ihren Herzen wuchsen noch stärkere Furcht und Ehrfurcht vor dem Wächter der Nacht. In dunklen Nächten schlossen sie ihre Türen, verrammelten ihre Fenster und zogen die Vorhänge zu. Und wenn sie das dumpfe Rascheln hörten, das keiner sehen konnte, flüsterten sie ein stilles Gebet in die Dunkelheit, auf das sie nie auf die Probe gestellt würden.

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