Seit drei Tagen hörte Amber einen unheimlichen Gesang. Es zog sie immer in den ausgedienten Teile des Schulgebäudes – dort, wo der Abbruch schon begonnen hatte und der Sicherheitsdienst sie warnte, ausdrücklich verboten war. Es waren alte Melodien, hymnenartig, sodass Amber fasziniert, wie hypnotisiert war.
An diesem Abend, die Mischung aus Neugier und Jungendmut unterschwellig mit einem Gout von Angst, folgte Amber dem Gesang, bis sie vor dem bröckelnden Tor des alten Auditoriums stand. Einvernehmlich still lag es da, die düsteren Schatten versuchten das letzte Funkeln der untergehenden Sonne zu schlucken.
Der Gesang wurde stärker, lauter. Es war, als ob sie ihren Namen flüsterten, in sanften, harmonischen Tönen. Mit bebenden Händen drückte Amber das Tor auf und betrat den dunklen Raum. Ein kühler Windstoß umhüllte sie. Der Gesang war deutlich, klar, und der Klang hallte von den hohen Decken wider.
Angstschweiß zeichnete ihren Rücken, doch der Gesang, der zuckersüße, betörende Gesang hielt sie gebunden. Die Lichter blitzten auf der Bühne auf, und dort stand sie, eine transparente Frau in einem alten Kleid, wie aus einer anderen Zeit, mit einem alten Mikrofon, das den Gesang auf andere Ebene trug. Der Anblick war furchteinflößend und schön zugleich.
Die transparente Frau bemerkte Amber, ihre Augen durchbohrten sie, doch der Gesang hörte nicht auf. Immer weiter, immer lauter der Gesang. Mit blendendem Licht umhüllt, ging die Gestalt in das Licht über und der Gesang erlosch.
Amber stand reglos da, das kalte echo der Stille wie ein Todesurteil, welches durch das Altertum hallte. Sie schüttelte den Kopf, versuchte sich loszureißen aus dieser tranceartigen Angst. Sie rannte hinaus ins Freie, das Herz pochend, die Lunge brennend.
Am nächsten Tag war das alte Schulgebäude niedergebrannt. Es blieb nichts als Asche und verkohltes Holz. Die Ursache des Brandes war unbekannt. Amber sah das Unglück aus der Ferne, der Anblick zog ein eisiger Schrecken durch ihre Knochen. Wäre sie geblieben, wäre sie tot.
Amber konnte den Gesang nie wieder hören, doch jedes Mal, wenn sie in den Ruinen des Auditoriums stand, hörte sie den alten Mikrofon rauschen und fühlte einen kühlen Hauch auf ihrer Haut. Sie wusste nie, was genau passiert war. Nur, dass der verbotene Gesang ihr Leben gerettet hatte. Ein Spuk? Ein Geschützter Hinweis? Eine Warnung vielleicht?
Das blieb ein Geheimnis, ein gruseliges, glitzerndes Geheimnis, dass sie mit sich trug. Und auch wenn sie es nie zugeben würde, manchmal, nur manchmal, vermisste sie den verbotenen Gesang.