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Stimmen im Wind

Stimmen im Wind

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Camilla zog ihren Mantel enger um sich und blickte in den düsteren Himmel. Seit einer Woche huschte sie durch die leerstehende Altbauwohnung ihrer verstorbenen Großtante, in der verlassenen Stadt. Camilla fühlte sich alleine, und das Surren des Windes draußen klang wie entfremdete Stimmen aus einer weit entfernten Welt.

Der Wecker zeigte schon über Mitternacht, aber der Schlaf wollte sie nicht umarmen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, hörte sie geflüsterte Gespräche. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, den Ton aus ihren Gedanken zu verdrängen.

Ein besonders lautes Rauschen ließ sie hochfahren. Sie lauschte, die Augen weit geöffnet in Richtung Fenster. Es klang wieder wie Stimmen, diesmal aber waren sie lauter, dringender. Der Wind schien ihr Worte ins Ohr zu summen.

Gerade als sie versuchte, es als Wind zuzuschreiben, hörte sie es klar und deutlich: „Camilla!“ Jemand rief ihren Namen. Jemand, der nicht dort sein sollte. Jemand, den sie nicht sehen konnte.

Camilla atmete schwer. War das ein Scherz? Das konnten keine Einbildungen sein. Sie sprang auf und rannte zum Fenster. Sie sah nur den schwarz getönten Himmel und die verlassenen Häuser draußen. Der Wind wehte, doch die Voices waren verstummt. „Es ist nur der Wind.“, murmelte sie sich selbst zu, während sie sich an ihre kalten, zitternden Hände klammerte.

Als sie zum Bett zurückkehrte, durchzuckte sie ein eisiger Schauer. Die Raumtemperatur hatte schlagartig abgenommen. Sie hörte es wieder, leiser diesmal, aber doch deutlich vernehmbar: „Camilla! Komm…komm…“. Das war mehr als sie ertragen konnte. Panik flackerte in ihren Augen auf. Sie lief zum Telefon und wählte die Polizei. Doch bevor sie sogar sprechen konnte, wurde die Leitung getrennt.

Sie ließ das Telefon fallen und starrte auf das Fenster. Die Gardinen wogen trotz der geschlossenen Fenster sanft hin und her. Ihr Herz raste. Sie beugte sich nach vorn zu den Gardinen, da flüsterten die Stimmen wieder: „Camilla! Warum bist du gekommen?!“

Camilla fiel auf die Knie, vor Angst starr. Der Boden unter ihr war kalt, aber sie spürte es kaum. Sie hörte leise, verzweifelte Sobs, die neben ihr erklangen, als würden sie aus dem Boden kommen. „Bitte…helft mir…wo bin ich?“, weinte eine der Stimmen hilflos und flehend – eine Stimme, die Camilla seltsam bekannt vorkam.

Dann verstummte alles, der Wind, die Stimmen, selbst ihr verräterisches Herz schien für einen Augenblick auszusetzen. Und dann drang aus der Stille eine neue Stimme hervor, tiefer und dunkler als alle anderen. „Camilla! Du hättest nicht kommen sollen!“

Es war die letzte Stimme, die sie hörte, bevor das Dunkel über sie hereinbrach. Am nächsten Morgen fanden sie die Nachbarn, weiß wie ein Geist, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Sie war zwar am Leben, aber sie sprach nie wieder und kehrte nie wieder in die Wohnung zurück. Niemand in der Stadt wagte es, das alte Haus zu betreten. Sie alle spürten es jetzt – die Stimmen im Wind.

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