jeden Tag eine Geschichte
Seelengrauen

Seelengrauen

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Lara saß in ihrem verschwitzten Pyjama auf dem ansonsten unbequemen Küchenstuhl und starrte auf ihren schwarz glimmenden Laptop. Spätestens seit dem Herunterfahren des Internets vor drei Monaten hatte sie mit der Tätigkeit als Social-Media-Managerin aufgehört. Doch heute, an diesem schwülen Sommertag, hören langjährige bloggers ihren Laptop zum ersten Mal wieder aufschnurren. Ganz ohne Internet. Sie musste sich eingestehen, dass es alte Gewohnheit war, die schwerer wog, als die Unmöglichkeit der Arbeit.

Ohne Vorwarnung füllte plötzlich ein Text das leere Dokument auf ihrem Bildschirm. Unbekannte Wörter schienen wie von Geisterhand geschrieben auf ihren Bildschirm zu prasseln. Jeder Versuch, die Tastatur zu berühren, den Prozess zu stoppen, war zwecklos. Lara, der die Gänsehaut inzwischen über den ganzen Körper lief, sah zu, wie eine Geschichte von Wut, Grausamkeit und Verzweiflung ihren Bildschirm beherrschte.

Teile der Geschichte klangen bekannt. Sie handelte von einem Jungen, der ins Internet abgetaucht war, seine Mitmenschen vernachlässigte und zunehmend brutal und unberechenbar wurde. Er lebte für seine sozialen Kanäle, fütterte sie täglich mit neuen Horrorstories, um Follower zu bekommen. Doch je mehr er sich seinem Online-Ich hingab, desto mehr verlor er seinen humanen Kern. Zuletzt führte diese Besessenheit zur Ermordung seiner eigenen Familie. Die Herzschläge in Laras Ohren trommelten ungleichmäßig, als sie den Schauer dieses Endes erfasste. Die Schreibweise war ihrer erstaunlich ähnlich.

Wie in Panik schlug sie den Laptopdeckel nach unten, wollte den grässlichen Text nicht weiterlesen. Dann ertönte aus dem offenen Küchenfenster ein Laut, wie ein verzweifelter Schrei. Lara zuckte zusammen. Ein kalter Hauch ließ die Kerzen auf dem Küchentisch flackern und ein leichter Geruch nach verbranntem Holz lag in der Luft. Irgendetwas war hier. Etwas unsichtbares, Undefinierbares.

Mit bebenden Händen öffnete Lara den Laptopdeckel erneut. Der Text war verschwunden, nur ein einziger Satz blieb auf dem hell erleuchteten Bildschirm zurück: „Du bist die Nächste“. Alles schien auf einmal still um sie herum, selbst das Ticken der Oma’sches Küchenuhr, die sie jahrelang begleitet hatte, verstummte. Der Schauder, der Lara erfasste, als sie die Worte las, war unnatürlich kalt und kroch in ihre Knochen.

Ihre Augen schlossen sich automatisch, eine tief greifende Angst ergriff sie. Als sie sie öffnete, sah sie im Spiegelbild des Laptop-Bildschirms einen dunklen, großen Schatten hinter sich. Es bewegte sich näher. Lautlos. Bedrohlich. Sie wollte sich umdrehen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie war wie gelähmt.

In der letzten Sekunde, bevor der Schatten sie erreichte, formte sich ein letzter Gedanke in ihrem Kopf: „Die Geschichte war eine Warnung. Wenn ich sie gelesen und verstanden hätte, hätte ich mich vielleicht retten können.“ Doch es war zu spät. Dunkelheit überfiel sie, während das Letzte, was sie hörte, das Klicken der ENTER-Taste war.

Am nächsten Morgen fand man Lara bewusstlos auf dem Küchenboden. Ihr Laptop war verschwunden, nur einen verbrannten Geruch und ein ominöser Post-it-Zettel auf dem Kühlschrank blieben zurück: „Du bist die Nächste“.

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