jeden Tag eine Geschichte
Schrei ins Leere

Schrei ins Leere

4

Es war ein mondloser Abend, der Wind säuselte durch die kahlen Äste der Bäume, ein unruhiger Vorahnung voller Dunkelheit. Sarah rückte die Kopfhörer fester in ihre Ohren und beschleunigte ihren Schritt. Ein neues Socialmedia-Trend war viral gegangen, ein neues Spiel, namens „Wisper App“. Sarah hatte sich heruntergeladen, um herauszufinden, worum es ging. Es war einfach und unheimlich zugleich. Du musstest einen Ort auswählen und dort hingehen. Dann musstest du durch dein Handy ins Leere schreien und auf eine Antwort warten.

Das ausgewählte Ziel war der alte, bröckelnde Bahnhof am Ende ihrer Stadt. Sie erreichte den Ort und schaute auf ihr Handy, es war Mitternacht. Mit der Dunkelheit um sie herum und der kalten Luft, die ihre Kehle hinunter kroch, fühlte sie ihr Herz in ihrer Brust schlagen. Sie öffnete die App, es gab ein leises Knistern in ihren Kopfhörern. Sie nahm ein tiefes Atem und schrie ins Mikrofon.

Ein dumpfer Schall klang in ihren Ohren. Es dauerte eine Sekunde und dann kam es zu ihr zurück. Ein Kichern, leise und schleichend. Es schallte in ihren Ohren, Sarah zuckte zusammen und starrte auf das Handy. Neben dem Lautstärkebalken befand sich ein kleines Waveform-Symbol, das aussah wie ein grünes leuchtendes Geisterbild. Es war die Klangwellenform ihres Schreis, die nun über das lachende Gesicht auf ihrem Handy-Display überlagert wurde.

Das Kichern war da, kein Zweifel. Sie schaute sich um, der Bahnhof war leer. „Bist du echt?“, fragte sie ins Mikrofon. Es blieb still, dann hörte sie es wieder kichern. Neben dem Gelächter hörte sie eine Stimme so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Sie tauchte geradewegs in die App ein und versuchte, sich auf diese geringste Bewegung auf dem Waveform-Symbol zu konzentrieren.

„Schau genau hin, Sarah. Schau genau hin“, war die Stimme in ihrem Ohr. Sie riss die Kopfhörer herunter und schrie vor Schreck. Mit schlackernden Knien und Haaren, die ihr ins Gesicht wirbelten, stand sie am Rand des Bahnhofsgleises. Ihr Handy, das sie in der Hand hielt, ging aus und wurde wieder dunkel. Doch die Stimme belebte weiterhin die kalte Brise um sie herum.

Sie starrte auf das dunkle Display, die Kälte breitete sich bis in ihren Kern aus. Im Licht der abfallenden Straßenlampe sah sie ihr eigenes Spiegelbild. Sie schaute sich an und sah darin etwas Dunkles, das hinter ihr auftauchte. Sie wollte sich umdrehen, um zu sehen, was es war, aber ihr Körper gab nach, und sie fiel zur Seite hinunter, starr auf die dunkle, kalte Schiene.

Die folgenden Tage hörte man von einer Tragödie am alten Bahnhof. Das alternde Radiosignal berichtete von einem „entsetzlichen Unfall“, doch die Freunde sahen sich an und sagten nichts. Sie hatten alle die „Wisper App“… Doch jetzt weigerte sich jeder, sie zu öffnen. Mit jedem neuen Tag, spürten sie die stille Drohung der App auf ihren Handys. Ein Schrei ins Leere…

Facebook
X
LinkedIn
Facebook
WhatsApp