jeden Tag eine Geschichte
Schattenwanderer

Schattenwanderer

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Ein ohrenbetäubender Schrei durchdrang die menschenleere Straße. Nur eine Person war noch draußen, ein junger Mann namens Tony. Der Schrei ließ ihn in seiner Bewegung erstarrten. Tony schaute sich um, seine Augen suchten besorgt nach der Ursache des grausamen Lautes.

Er stand mitten auf den Gehweg als er plötzlich bemerkte, wie die Straßenlaternen um ihn herum eine nach der anderen ausgingen. Eine unbeschreibliche Dunkelheit breitete sich aus und ließ nur den Mondschein zurück, der auf die leeren Straßen fiel. Tony spürte binnen Sekunden, wie sich die frische Nachtluft in eine eisige Kälte verwandelte.

Dann, aus dem Augenwinkel, sah er eine Bewegung. Er fuhr herum und erstarrte. Eine dunkle Gestalt bewegte sich auf ihn zu. Ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, nach jedem Schritt den es tat, verschluckten die Schatten es nach und nach.

Die Gestalt schien den Schatten zu beherrschen, mit ihnen zu verwachsen, und sie an seinen dunklen Willen zu binden. Tony befand sich in der lurenden Präsenz eines Schattenwanderers. Er versuchte zu schreien, so laut er konnte, aber die Worte erstickten in seiner Kehle.

Aus der Ferne hörte er das Klingen einer Kirchturmuhr, die halbe Stunde schlug. Ungeachtet vom bedrohlichen Ungetüm begann der Herzschlag in seiner Brust schneller zu pulsieren. Jedes Echo des Läutens pocht tiefer in seinem Kopf, es pulsierte wie eine zweite Arterie.

Der Schattenwanderer blieb direkt vor ihm stehen. Er war groß, viel größer als Tony und hüllte sich in einen Mantel, der dunkler war als die Nacht selbst. Unter dem Kapuzenschatten glühten zwei flammende Augen–die einzige erkennbare Merkmal dieses Wesens.

Tony schloss die Augen fest und wartete auf sein Schicksal. Als er sie wieder öffnete war die Gestalt verschwunden. Er atmete erleichtert auf, doch die Kälte verschwand nicht. Sie kroch weiter in seine Seele.

Ein kalter Wind wehte und Tony begann zu frösteln. Er zog seinen Jackett fester um sich und machte sich auf den Heimweg. Dort sah er sie, seine Wohnungstür, halb offen, einladend und doch verstörend. Hinter der Tür leuchtete kaum Licht. Er ging hinein und sah sich um. Alles schien normal. Vielleicht war es nur ein Alptraum gewesen. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und schloss die Türe hinter sich.

Gerade als er ausatmete und versuchte sich zu entspannen, fiel sein Blick auf das Fenster. In der Spiegelung sah er ihn. Den Schattenwanderer. Er stand direkt hinter ihm, bereit, in die Dunkelheit zurückzukehren, den nächsten unglücklichen Wanderer zu finden, der sich in die Arme der Nacht verirrte.

Die Dunkelheit schloss sich um Tony und verschlang jegliches Licht um ihn herum. Das letzte, was er in der finsteren Dunkelheit sah, waren diese flammenden Augen des Schattenwanderers.

Ein ohrenbetäubender Schrei durchdrang die menschenleere Straße. Dann war Stille. Ein Schatten glitt über die leeren Straßen, unsichtbach unter dem Mondschein.

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