Draußen peitschte der Regen gegen die Fenster, und der Wind heulte zwischen den verlorenen Seelen der Großstadt. In der Dunkelheit des kleinen Apartments saß Max, fasziniert und gefangen von der kalten Leuchtkraft seines Smartphones. Ein seltsamer Post in einem alternativen Medium-Unterforum hatte seine Aufmerksamkeit erregt- ‚Der Schattengänger‘, las er mit lauter Stimme, als stünde er vor einer unsichtbaren Zuhörerschaft.
Die Geschichte handelte von einer Kreatur, die sich in den Schatten bewegte, sich ihnen anschloss und Kontrolle über alles ergriff, was sie berührten. Es wurde gemunkelt, dass sie ganze Städte in Dunkelheit hüllen und mit nur einer Berührung Leben auslöschen konnte. Laut des Posts war es wichtig, Tag und Nacht voneinander zu unterscheiden, denn die Dunkelheit war ihr Hinterhalt. Wer das Missverständnis machte und die Dunkelheit ignorierte, der hätte einen hohen Preis zu zahlen.
Max kichert leise und schüttelte den Kopf. Gerne versank er in solche urbane Mythen und Geschichten von unbestimmten Wesen, die im Dunkeln wohnen. Es war eine willkommene Ablenkung von der harten Wirklichkeit seiner eigenen, isolierten Existenz, einem Job, der ihm Kraft und Lebensfreude raubte und langen Nächten, führte zu grüblerischem Schlaf.
Er legte das Handy weg und ging zum Fenster. Die Stadt lag in Dunkelheit, und gerade in diesem Moment gab es einen flackernden Schatten, der vor seinem Fenster vorbeizog. Er grinste und schüttelte den Kopf – „Lasst den Schattengänger kommen.“ Er murmelte leise für sich.
Nach dieser Nacht veränderte sich jedoch alles. Dunkle, flüsternde Stimmen füllten seine Träume und ein ständiges Gefühl der Verfolgung drückte auf seiner Brust. Jede Nacht sah er Schatten, die wie Pech an den Wänden klebten und nach ihm griffen. Sie streckten ihre schwarzen Arme nach ihm aus und flüsterten: „Du hast uns gerufen“.
Max versuchte alles, um Licht zu halten. Er kaufte Taschenlampen und Flutlichter, ließ im Bad das Licht an, schlief sogar vor dem geöffneten Kühlschrank, aber die Dunkelheit fand immer einen Weg. Die Schatten kamen jedes Mal ein Schritt näher. Auf seiner Haut bildeten sich schwarze Flecken, die das Licht absorbieren und seiner Haut die Wärme entziehen. Es war als würde die Dunkelheit langsam in ihn eindringen.
Die Einsamkeit machte die Dinge umso schlimmer. Jeder Anruf, den er machte, um Hilfe zu rufen, ging ins Leere. Nachrichten, die er versandte, wurden nie geliefert. Es war, als würde die Dunkelheit ihn zur Stille zwingen, um ungestört ihr grausames Spiel zu treiben.
An einem grauenhaften Morgen, als die frühe Dämmerung brach, war Max erneut eingehüllt in die Dunkelheit seines Apartments. Er stand auf und sah sich im Spiegel an. Seine Augen waren dunkel und leer, sein Körper von schwarzen Stellen bedeckt. Er konnte sich selbst nicht mehr erkennen.
Was, wenn der Schattengänger nur ein Spiegelbild der eigenen Dunkelheit war? Was, wenn er die ganze Zeit in ihm hatte eindringen wollen, nur auf seine Einladung gewartet hatte? Was, wenn Max selbst der Schattengänger war?
Wenn wir in die Dunkelheit hineinrufen, ruft die Dunkelheit dann auch in uns hinein?