Lena betrat mit zittrigen Knien ihr neues Appartement. Die grau getünchten Wände und blank polierten Holzböden gaben dem Raum eine sterile Kälte. Doch es war ihre letzte Chance, in dieser Stadt einen Neuanfang zu wagen, abseits ihrer Vergangenheit.
Es begann in der ersten Nacht. Ein Wispern in den Wänden, das sie aus dem Schlaf riss. Sie tastete nach ihrem Handy, das kalt und tot in ihrer Hand lag. Der digitale Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte nur verwirrende Zahlen. Sie saß da, eingehüllt in Dunkelheit, als sich ein Schatten von der Wand löste und auf sie zukam.
Im Dunkeln konnte sie die Form kaum unterscheiden – es war wie eine menschliche Silhouette. Unklar und unscharf, schienen die Ränder des Schattens ständig fein zu flimmern. Es bewegte sich auf sie zu, erst langsam, dann immer schneller. Lena konnte nichts tun, sie war wie versteinert.
Als der Schatten in sie eindrang, spürte sie eine eiskalte Welle, die ihren Körper durchraste, und sie verlor das Bewusstsein. Als sie erwachte, war es Tag und der Schatten war verschwunden. Doch sie konnte die Erinnerung an dessen Präsenz nicht abschütteln.
In den folgenden Nächten wiederholte sich das Geschehen. Der Schatten kam und ging, jedes Mal nahm er etwas mit – einen Teil von ihr. Langsam wurde es ihr klar, der Schatten war nicht nur eine Erscheinung, sondern auch ein Raubtier – es verschlang sie Stück für Stück.
Um dem Entkommen entgegenzuwirken, brachte sie helle Lampen an und ließ sie die ganze Nacht brennen. Doch nichts hielt den Schatten auf. Das Dunkle drang aus ihren Träumen hervor, es verschluckte das Licht, bis es sie wieder ganz allein hatte.
Verzweifelt versuchte sie, anderen Menschen von ihrer Begegnung zu erzählen, aber niemand glaubte ihr. Ihre Freunde sahen nur den Verlust an Gewicht und Lebensfreude. Die Ärzte diagnostizierten Schlafstörungen und Depressionen.
An einem Morgen, nach einer besonders schlimmen Nacht, sah Lena in den Spiegel und erkannte sich selbst nicht mehr. Ihre Augen waren hohl und leer, ihre Haut aschgrau. Sie konnte nicht länger fliehen, sie war nicht mehr sie selbst.
Die letzte Hoffnung bestand darin, das Wesen in ihrer Wohnung zu konfrontieren. Ihre Hände umklammerten den eisernen Kerzenhalter, ihre Augen suchten die Dunkelheit ab. Als der Schatten emporstieg, stürzte sie auf ihn zu, aber ihre Arme fielen durch ihn hindurch wie durch Rauch.
Erschöpft sank sie auf den Boden. Während der Schatten sie umhüllte, schloss sie die Augen und ließ sich fallen. Ein Gefühl der Stille umhüllte sie. Dann spürte sie nichts mehr – weder Kälte noch Angst. Nur Dunkelheit.
Am nächsten Morgen stand die Sonne hell am Himmel, die Vögel zwitscherten, das Leben ging weiter. Doch in Lenas Wohnung war es still. Alles, was übrig blieb, war ein leerer Raum – kein schattenbedeckter Körper, keine leuchtenden Augen. Nur Stille.
Die Nachbarn sprachen von einer unglücklichen jungen Frau, die von Einsamkeit und Depressionen überwältigt wurde. Niemand erwähnte den Schatten, niemand sah die Dunkelheit, die sie ergriffen hatte. Doch wenn die Nacht hereinbricht und die Lichter erlöschen, wer weiß schon, was sich in den Schatten verbirgt?