jeden Tag eine Geschichte
Schatten der Vergangenheit

Schatten der Vergangenheit

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Jeder Ort trug Seelen von Vergangenheiten, die dem nackten Auge verborgen blieb. So auch die kleine Kneipe an der verlassenen Straße, in die sich Jonas nach einer langen Nachtschicht flüchtete, um dem Alltag zu entkommen.

Die Kneipe schmückte sich mit Spuren der Vergangenheit, mit verblassten Fotografien, die Generationen von Gästen zeigten, deren Gesichter in Zeit eingefroren waren. Die Stimmung pendelte stets zwischen nostalgischer Ruhe und beklemmender Totenstille, doch Jonas fühlte sich dort geborgen.

Es war eine Nacht im November. Dem Nebel eigentümliche Schatten folgend, erreichte er die Kneipe. Doch diese Nacht fühlte sich anders an. Das sonst beruhigende Flackern des Tresenlichts schien ihm ein Warnsignal zu sein. Aber er schüttelte sein Unbehagen ab und trat ein.

Als er die Schwelle überschritt, durchfuhr ihn ein eisiger Schauer. Die Kneipe war leer. Nicht einmal der gewohnte Barkeeper war da. Im hinteren Teil des Raumes jedoch, im Dunst des schwachen Lichtes, saß eine stille Gestalt allein an einem Tisch. Jonas atmete tief ein und gesellte sich vorsichtig dazu.

Der Unbekannte blickte auf, nur sein leuchtendes linkes Auge war in der Dunkelheit zu erkennen. Das rechte blieb verborgen im Schatten. Eine lange Narbe zog sich über sein bleiches Gesicht und endete an seinem gräulichen Bart. Die Gestalt nickte Jonas flüchtig zu und wandte sich wieder seinem trüben Glas zu.

Der Fremde stellte sich als Bart vor und begann, Geschichten zu erzählen. Von seiner Vergangenheit, Kriegen, die er erlebt hatte, von Liebe und dem Verlust, den er erfahren hatte. Jede Geschichte schien einen Schatten auf die Wände der Kneipe zu werfen.

Jonas lauschte, gefangen in einem Strudel aus Schauder und Faszination. Der Fremde sprach weiter, seine Stimme, sanft und ruhig, doch der Schmerz in seinen Worten war greifbar. Stunden vergingen. Und als Jonas auf die Uhr blickte, erstarrte sein Blut.

Er sah sich um. Die Fotos an den Wänden schienen fast leblos zu sein. Er stützte sich schwer auf den Tisch und der Fremde stoppte inmitten einer Erzählung. Fast blicklos schaute er Jonas an. Er grinste fast unmerklich und fragte: „Glaubst du an Geister, Jonas?“

Jonas zuckte zusammen. Er hatte dem Fremden seinen Namen nie verraten. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihm aus. Bevor er antworten konnte, hob Bart seine Hand und zeigte auf ein Bild an der Wand hinter ihm.

„Über 150 Jahre alt“, sagte er. Das Schwarzweißfoto zeigte den Vorraum der Kneipe, damals voller Menschen. Und ganz hinten, an einer Bar… stand Bart. Mit seinem leuchtenden linken Auge und einer Narbe, die sich über sein Gesicht zog. Anders als die anderen auf dem Bild. Er war der einzige, dessen Gestalt dunkler und unscheinbarer war, als wären seine Konturen mit Schatten gemalt.

Jonas konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er sprang auf, stürmte aus der Kneipe, ließ das laute Lachen von Bart hinter sich. Doch als er über seine Schulter zurückblickte, war die Kneipe völlig dunkel. Nur im Fenster konnte er für einen Moment Barts Augen aufleuchten sehen. Und dann verschwanden sie.

Bis heute ist die Kneipe an der einsamen Straße verschlossen und taucht nur in den Geschichten der Dorfbewohner auf. Sie flüstern über die Schatten der Vergangenheit, die dort leben, über Bart und über Jonas, der nie wieder das gleiche war. Einige behaupten, sie würden an manchen Neumondnächten einen zarten Lichtschein durch die zugezogenen Vorhänge sehen und das geisterhafte Lachen Barts hören. Doch Jonas schweigt und meidet seitdem jeden Schatten.

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