Das erste Mal bemerkte Emily den Riss, während sie in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers auf ihr Handy starrte. Es war klein und subtil – fast unauffällig -, dass es an der Wand ihres Zimmers auftauchte. Ein Lichthäufchen, das den zartrosa gestrichenen Putz durchbrach. Als sie hinsah, bemerkte sie, dass es sich wie ein Riss im Raum selbst anfühlte, nicht in der Wand.
Neugierig, aber ein wenig unruhig, streckte Emily ihre Hand aus, um den Riss zu berühren. Es fühlte sich kalt und gleichzeitig prickelnd an, wie die statische Elektrizität eines Wollpullovers. Sie zog ihre Hand schnell zurück.
Die darauffolgenden Tage brachte der Riss weitere Veränderungen. Kleine Gegenstände in ihrem Zimmer verschwanden und tauchten plötzlich wieder auf. Ihr Smartphone zeigte nicht vorhandene Nachrichten, ihr E-Mails befanden sich in Ordnern, die sie nie erstellt hatte. Emily wurde immer verängstigter.
Eines Nachts wachte sie schweißgebadet auf. Der ganze Raum war von einem kalten, blauen Licht erfüllt. Der Riss hatte sich verbreitert. Es war jetzt groß genug, um einen Kopf hindurchzustecken. Emily stand auf und ging, von einer Mischung aus Angst und Neugier getrieben, auf den Riss zu.
Sie leuchtete mit ihrem Handy hinein und stockte. Sie sah ihr eigenes Schlafzimmer. Aber alles war verkehrt herum. Ihr Bett hing von der Decke, die Lampe lag auf dem Boden. Und im Bett sah sie sich selbst liegen, die Augen geschlossen, scheinbar schlafend.
Angst erfüllte ihre Gedanken. Sie wollte schreien, weglaufen, sich im Bad einsperren und warten, bis das Licht des Morgens diese Halluzination auflöste. Aber vor Schock erstarrt, konnte sie nur den Kopf schütteln und auf ihr zweites Ich starren.
Das andere Emily im Bett öffnete die Augen und sah sie an. Es setzte sich auf und lächelte. Angst erfüllte Emilys Herz, als das andere Emily ihren Mund öffnete und mit ihrer eigenen Stimme sprach: „Habe keine Angst, Emily,“ sagte sie. „Es ist nur eine andere Realität.“
Das echte Emily fiel in Ohnmacht. Als sie erwachte, war der Riss verschwunden. Ihr Zimmer war wieder normal. Aber der Nachgeschmack von Furcht und Unsicherheit blieb. Sie fragte sich immer wieder, ob es nur ein Traum war, oder ob sie tatsächlich einen Blick in eine andere Realität erhascht hatte. Eine Realität, in der sie ein Leben führte, das vielleicht nicht ihr eigenes war.
Jede Nacht erwachte sie nun in der Furcht, dass sich der Riss wieder öffnen könnte. Aber es passierte nichts. Die Normalität war zurückgekehrt. Doch im Dunkeln lauerte die ständige Frage: Was, wenn es wieder passiert? Was, wenn es mehr Realitäten gibt, als sie sich vorstellen kann? Und was, wenn sie eines Tages in einer davon gefangen sein wird?
Die Risse in Emilies Realität waren verschwunden, aber die Risse in ihrem Verständnis von Wirklichkeit und Unwirklichkeit waren geblieben. Ihr Leben hatte sich fortan verändert. Das Schlafzimmer, einst ein Ort des Friedens, war nun ein Portal der Unsicherheit. Und egal wie sehr sie es auch versuchte, die Furcht vor dem Unbekannten ließ sie niemals los. Sie war gefangen in der Realität ihrer eigenen Angst.