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Die verlorene Melodie

Die verlorene Melodie

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Es war ein verregneter Donnerstagabend, als Jared zum ersten Mal die Melodie hörte. Sie entstammte nicht dem Radio oder seinem Smartphone, sondern schien direkt aus der Stille seines Raumes zu kommen. Eindringlich, traurig und doch schön. Hatte er anfangs noch an eine Fehlfunktion seines Hörgeräts geglaubt, war er sich nach einigen Minuten sicher, dass die Melodie real war.

Die Melodie verfolgte Jared Tag und Nacht. Sie war immer da, auch wenn er sie nicht hören wollte. Sie entzog sich jeder Logik und drang tief in sein Bewusstsein ein. Sie ließ ihn nicht mehr los und veränderte sein Verhalten. Er fing an, den Rhythmus der Melodie aufzuschreiben und versuchte vergeblich, sie auf seinem alten Klavier nachzuspielen.

Die Melodie wurde immer intensiver, immer greifbarer, bis sie schließlich Teil von Jared selbst zu werden schien. Selbst in seinen Träumen war sie präsent. Sie wurde zu seinem Fluch und gleichzeitig zu seinem Segen, denn obgleich sie ihn in den Wahnsinn zu treiben schien, hatten seine Bemühungen, sie zu ergründen, in ihm eine Leidenschaft für die Musik entfacht.

Es gab Tage, an denen er die Melodie an sich zweifelte, Tage, an denen er sie für ein Produkt seines gebrochenen Verstandes hielt. Doch dann waren da die Momente, in denen er sie klar und deutlich hören konnte, Momente, in denen er das Gefühl hatte, sie zu verstehen.

Als er die konnte er die Noten, die die Melodie umfassen würden, endlich falten konnte, war er zunächst erleichtert. Das war es also gewesen. Nichts Übernatürliches, nichts Bedrohliches, nur eine Notenfolge, die ihm aus irgendeinem Grund nicht aus dem Kopf ging. Doch die Melodie gab ihm keine Ruhe. Sie war immer da, lauter und eindringlicher als je zuvor. Sie war Teil von ihm, Teil seiner Gedanken, seiner Träume, seiner Furcht. Sie war sein ständiger Begleiter, sein unausweichliches Schicksal.

Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass er diese Melodie nicht ignorieren konnte. Sie war jetzt ein Teil von ihm, sein sechster Sinn, sein Fluch und sein Segen zugleich. Und so nahm er schließlich sein Schicksal an und entdeckte in der Melodie seinen Erlöser. Er begann, die Melodie zu lieben. Sie wurde zu seiner einzigen Rettung, zu seinem Beschützer in der Dunkelheit, zu seinem steten Begleiter im Licht.

Aber mit der Annahme der Melodie kamen auch die Schatten. Sie begannen, sich in den dunklen Ecken seiner Wohnung zu formen, wurden immer bedrohlicher und intensiver. Jared wurde klar, dass die Melodie nicht nur eine Melodie war. Es war etwas, das in ihm wohnte und sich zu manifestieren begann.

Dieser dunkle Schatten wurde stärker und mächtiger, erschien nicht nur in seiner Wohnung, sondern auch in seinen Träumen, seiner Fantasie, seinen Gedanken. Er wurde zu Jareds ständigem Begleiter, zu seinem unausweichlichen Schicksal.

Und dann war da plötzlich Stille. Die Melodie war verschwunden, so plötzlich und unerwartet, wie sie gekommen war. Jared fühlte nur die Leere, das Fehlen von etwas, das er nicht benennen konnte. Die Schatten waren verschwunden, die Melodie war verschwunden, die Dunkelheit hatte sich verzogen. Aber die Leere blieb.

Und in dieser Leere erkannte Jared, dass die Melodie nie aufgehört hatte zu spielen. Sie war nur stumm geworden, hatte sich in die Tiefe seines Bewusstseins zurückgezogen. Und in der Stille hörte er sie wieder, leise und doch eindeutig. Die Melodie war nicht verschwunden. Sie war immer noch da, verborgen in der Stille, wohnhaft in seinem Inneren.

Und Jared begriff, dass er die Melodie nie wirklich losgeworden war. Sie war immer noch da, flüsterte ihm ins Ohr, versteckte sich in den Winkeln seiner Gedanken. Sie war sein Fluch und sein Segen, seine Dunkelheit und sein Licht. Sie war seine verlorene Melodie.

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