jeden Tag eine Geschichte
Das Echo der verlorenen Seelen

Das Echo der verlorenen Seelen

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Emily saß allein in der Bar und starrte auf ihr Handy. Sie war eine Dokumentarfilmerin, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Ding. Ein Gerücht hatte sie hierher geführt, in die trostlose, verlassene Stadt Clintwood – Ein Echo der verlorenen Seelen soll es hier geben. Die ganze Bar wirkte leblos, fast wie ein Skelett. Nur der Barkeeper an der Theke schien sich noch anzubieten, Leben in diese traurige Szenerie zu hauchen.

Der Barkeeper, ein alter Mann mit tiefliegenden Augen und grauem Haar, musterte sie neugierig. „Was bringt dich eigentlich hierher, junger Mensch? Das meiste hier ist nicht mehr das, was es früher war“, fragte er. Emily zuckte mit den Schultern und mit einem geheimnisvollen Lächeln erklärte sie ihm, dass sie Gerüchten über ein Echo verlorener Seelen auf der Spur sei. Der Barkeeper lachte kurz auf und ein Schauer rannte ihr den Rücken hinunter. Er reckte den Hals und kratzte seine hagere Kehle. “Ah, das Echo,” sagte er, seine Stimme rau und heiser. „Sei gewarnt, Kind. Dieser Ort hat schon viele Seelen verschlungen.“

Sie ließ sich von seinen düsteren Warnungen nicht abschrecken. Sie hatte schon viele alte Männer gehört, die Geschichten erzählen, um junge Abenteuerlustige einzuschüchtern. Dennoch hatte sie ein Gefühl, dass hier etwas anders war. Vielleicht war es die Art und Weise, wie der Wind durch die leeren Straßen der Stadt heulte oder die geisterhaften Schatten, die von den verlassenen Gebäuden geworfen wurden. Etwas war hier definitiv unheimlich.

Die Nacht war hereingebrochen und Emily machte sich mit ihrer Kamera auf den Weg zum angeblich verfluchten Ort. Der Wind pfiff und die Temperatur fiel schlagartig. Es war ein seltsamer Platz, fast wie ein Amphitheater. Es schien als ob die verlassenen Gebäude die Zuschauer waren und das Echo die traurige Performance. Emily stellte ihre Kamera auf und wartete. Es dauerte nicht lange, da hörte sie das erste Echo. Es war kaum wahrnehmbar, ein Flüstern im Wind. Und dann wurde es lauter. Es waren Stimmen. Tausende von ihnen, alle durcheinander. Und plötzlich hörte sie ihren Namen. In dieser Kakophonie hörte sie deutlich ihren Namen, ausgerufen als ob sie gerufen wurde. Es war, als wären all die verlorenen Seelen dort, in diesem Moment, bei ihr.

Emily wollte wegrennen, aber ihre Füße waren wie angewurzelt. Sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter, und als sie sich umdrehte, sah sie die Gestalt des alten Barkeepers. „Du musst ihnen antworten,“ flüsterte er. „Nur dann werden sie Ruhe finden.“ Zögerlich hob Emily ihre Hand und sprach in den Wind. „Ich höre euch,“ sagte sie. „Ich bin hier um euch zu helfen. Was wünscht ihr?“

Das Echo verstummte. Dann hörte sie eine einzelne Stimme, klar und hell. „Bringe unsere Geschichten an die Welt. Lass uns nicht im Vergessen verschwinden.“ In diesem Moment fühlte sie eine Verbindung zu all den verlorenen Seelen, eine Aufgabe, die sie erfüllen musste.

Seit dieser Nacht hat Emily zahlreiche Dokumentationen produziert, inspiriert von den Geschichten verlorener Seelen. Clintwood mag eine Geisterstadt sein, doch ihre Seelen leben in ihren Filmen weiter. Das Echo der verlorenen Seelen hat Emily in die Stadt geführt, und es verfolgt sie nun. Aber nicht in einem unangenehmen Sinn. Es ist vielmehr ein Flüstern, eine Erinnerung, die sie immer ermahnt, dass ihre Arbeit noch nicht getan ist.

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