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Abgrundruf

Abgrundruf

3

Mitten in einer stockfinsteren Nacht klingelte Carls alte, bronzene Telefon. Er lag da, eingerollt in seiner Bettdecke und lauschte der schrillen Melodie, die durch die tiefe Stille seiner ausgestorbenen Wohnung, schneidend wirkte. Mit zitternden Händen hob er den Hörer ab.

„Warst du schon einmal am Abgrund, Carl?“ Die tiefdunkle Stimme am anderen Ende der Leitung brachte ihn aus der Fassung.

Carl schluckte. „Wer ist das?“ Aber auf der anderen Seite war nur noch das monoton knisternde Rauschen der Leitung zu hören. Mit einem unsicheren Gefühl legte er den Hörer auf und legte sich zurück ins Bett.

Als das Telefon ihn wieder aus dem Schlummer riss, war es zwei Uhr nachts. Die gleiche Stimme wiederholte die Frage: „Warst du schon einmal am Abgrund, Carl?“ Diesmal legte Carl nicht auf. „Wir kennen uns nicht. Lassen Sie mich in Ruhe!“ Er schrie ins Telefon, bevor er die Verbindung abrupt trennte.

Die nächsten Nächte liefen genauso ab. Beim ersten Klingeln fuhr ihm jederzeit ein Schauer über den Rücken. Die rätselhafte Stimme stellte immer wieder die gleiche Frage und legte dann auf. Carl ging nicht mehr ans Telefon, ließ es klingeln und erstickte den Lärm mit Kopfkissen und Decken.

Eines Abends jedoch, nach sieben schlaflosen Nächten, konnte Carl nicht mehr widerstehen. Er hob den Hörer ab. „Okay“, stöhnte er resigniert, „Ja, ich war am Abgrund. Jetzt zufrieden?“

Anstatt aufzulegen, antwortete die Stimme diesmal mit eisiger Ruhe. „Gut, Carl. Schau morgen in deinen Briefkasten.“

Am nächsten Morgen fand Carl dort einen alten rostigen Schlüssel mit einer Notiz: „Mach dich auf den Weg zur hochgelegenen Klippe beim Leuchtturm. Es gibt etwas, das du sehen musst.“

Getrieben von müdem Wahnsinn gehorchte Carl. Er fuhr zum Leuchtturm und kletterte die Klippen hoch. Dort fand er eine verrostete, alte Holztür, in eine Felsformation eingelassen. Sie passte perfekt zum Schlüssel.

Carl öffnete die Tür und betrat einen dunklen Raum. Das einzige Licht kam von einer flackernden Kerze in der Mitte des Raumes. Neben der Kerze lag ein altes Telefon und ein abgewetzter Umschlag mit seinem Namen drauf. Ängstlich öffnete er den Umschlag und zog ein vergilbtes Taufzertifikat heraus. Sein Name stand darauf geschrieben, neben dem eines ihm unbekannten Elternteils. Der Name des Vaters wurde mit derselben kantigen Handschrift notiert, die nun seinen Namen auf dem Umschlag verzierte.

Vor Schreck tropfte das Papier aus seinen Händen. Immer wieder las er den Namen. „Endlich wissen Sie die Wahrheit, Carl,“ sagte eine Stimme hinter ihm.

Als er sich umdrehte, stand Niemand in dem engen Raum. Aber das Telefon in der Mitte des Raumes klingelte erneut. Mit Zittern hob er den Hörer und hörte die vertraute Stimme. „Vater?“ Carl stammelte ins Telefon. „Ja, Carl, ich bin es wirklich. Es ist Zeit für dich, den Abgrund zu erkennen und die Wahrheit deines Lebens zu akzeptieren.“

Das Knistern am anderen Ende der Leitung hörte abrupt auf. Carl stand da, starrte auf das leere Telefon und war sich plötzlich bewusst, dass sein Leben nie wieder dasselbe sein würde.

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