jeden Tag eine Geschichte
Nacht ohne Ende

Nacht ohne Ende

1292

Gedämpftes Licht eines abnehmenden Mondes fiel durch das Fenster und betonte die Stille in Jessicas Zimmer. Ihr Blick haftete auf der altmodischen Wanduhr, die sie vor einiger Zeit bei einem Flohmarkt erworben hatte. Die Uhr tickte leise vor sich hin, spähte mit ihrem einzigen Auge, dem runden Glaskasten in der Mitte, die Umgebung aus. Es war exakt Mitternacht. Jessica war wach, fetzenhafter Schlaf beherrschte ihre Nächte seit einer Weile.

Jessica schüttelte den Kopf und versuchte, die wachsende Unruhe zu ignorieren. Sie schnappte nach Luft, als sie merkte, dass die Uhr aufgehört hatte zu ticken. Das monotone Ticken war zu einem beruhigenden Hintergrundrauschen geworden. Sein plötzliches Stummschalten erstreckte eine verstörende Stille. Sie stand auf, näherte sich der Uhr und entdeckte die Sekundenzeiger, die auf der zwölf feststeckten.

Die Dunkelheit schien sich um sie herum zu schließen. Eine Kälte griff nach ihr, griff sie an den Beinen, kroch an ihrer Wirbelsäule hoch und zwang sie beinahe in die Knie. Ein schwerer Atemzug, und sie schloss instinktiv die Augen. Sie schauderte, als sie das Gefühl hatte, nicht allein im Raum zu sein.

„Ist da jemand?“, frage sie flüsternd, und es gelang ihr kaum, ihre Stimme zu stabilisieren. Noch ehe sie die Augen öffnen konnte, dröhnte ein schriller Lärm durch die Stille, der sie fast zu Boden zwang. Die duftende Kerze auf ihrem Nachttisch war erloschen, und als sie aufsah, glaubte sie zwei glühende Augen zu sehen, die im Dunkeln auf sie herunterblickten.

Jessica stolperte, fing sich gerade noch am Bücherregal neben ihr und blinzelte verwirrt. Ihr Herz pochte in ihrer Brust. Sie schloss die Augen, zählte bis drei und öffnete sie wieder. Die Augen waren verschwunden.

„Du bist nur müde. Das sind nur die Schatten“, murmelte sie, versuchte sich selbst zu beruhigen. Minuten vergingen in schrecklicher Stille. Dann tickte die Uhr weiter. Sie schreckte auf und sah zur Uhr. Der Sekundenzeiger rührte sich wieder, aber er bewegte sich rückwärts.

Sie versuchte dann, ihr Smartphone zu greifen, doch das Display blieb schwarz. Kein Knopf reagierte, egal wie oft sie darauf tippte oder drückte. Die Zeit, die auf ihrem Wecker angezeigt wurde, war immer noch Mitternacht. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie bemerkte, dass alle ihre elektronischen Geräte nicht mehr funktionierten.

Das Schlagen ihres Herzens übertönte das leise Ticken der Uhr. Jessica spürte, wie die Angst über sie hereinbrach. Sie rannte zur Tür, riss sie auf und stellte fest, dass auch draußen noch tiefste Nacht war. Die Straßenlaternen, normalerweise ihr tröstender Anblick, hatten aufgehört zu leuchten. Alle Häuser in ihrem Blickfeld waren dunkel, als ob die Zeit für die gesamte Welt stehen geblieben wäre.

Die Dunkelheit, die nichts und alles zu sein schien, lockte sie. Sie stand im Eingang ihrer Wohnung, unfähig, einen weiteren Schritt zu tun. Die Nacht sollte enden, aber sie endete nicht. Die Mitternacht zog sich weiter und weiter ohne Ende. Jessica war in einer Nacht gefangen, die nicht versprach, jemals zu enden.

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