jeden Tag eine Geschichte
Die Wächter des alten Friedhofs

Die Wächter des alten Friedhofs

1502

Ana starrte auf den verwitterten Eingang des alten Friedhofs, eine kalte Furcht breitete sich langsam in ihrer Brust aus. Es war ein Ort, den die Leute normalerweise mieden – zu verwachsen, zu still, zu uralt. Aber Ana hatte eine Wette verloren und war nun verpflichtet, Mitternacht eine Stunde auf dem alten Friedhof zu verbringen.

Die alte eisenbeschlagene Tür quietschte erbärmlich, als sie sie öffnete. Das knorrige Geäst der hohen alten Bäume erschuf kantige, tanzende Schatten auf dem von Unkraut überwucherten Weg. Sie stieg vorsichtig über die steinernen Grabplatten, die wie schiefe Zähne aus dem Boden ragten.

Zu ihrer Überraschung bemerkte sie im Dunkel zwei leuchtende, grünliche Punkte, die in einiger Entfernung schwebten. Als sie näher kam, erkannte sie sie als leuchtende Augen, die zu einer großen steinernen Statue gehörten. Es war Saturn, der Gott der Zeit, der hier als Wächter stand, seine steinernen Arme ausgestreckt, als ob er die Toten beschützen wollte. Ana zog ihren Smartphone heraus und tippte eine kurze Notiz in ihre Story auf Instagram, fügte ein paar lachende Emojis dazu und drückte auf Senden.

Kaum hatte sie das getan, schien eine plötzliche Kälte die Luft zu durchdringen. Die schattenhaften Gestalten um sie herum schienen Dunkler zu werden, bedrohlicher. Ein bitterer Windstoß ließ das Laub auf dem Boden rascheln und Ana zog ihren Mantel enger um sich. Sie hörte ein Flüstern, ein leises Knurren, doch als sie sich umdrehte, war nichts zu sehen.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass die grünen Augen der Statue sie direkt ansahen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie versuchte es als Trugbild ihrer Angst abzutun, aber die Augen folgten ihr, egal wo sie hinging. Sie fühlte eine tiefe, unangenehme Angst in ihrem Magen aufsteigen.

Sie wollte schon weglaufen, da sprach die Statue zu ihr. Ihre Stimme kam tief und warnend. „Ana“, murmelte sie leise, „warum verstörst du die Ruhe der Toten? Die Toten sollten in Frieden gelassen werden.“ Ana starrte entsetzt auf ihr Handy, ihr Instagram-Feed spiegelte die Worte der Statue wider, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort.

Ein unheimliches Wimmern durchbrach die Stille. Etwas Riesiges und Dunkles schälte sich aus den Schatten und bewegte sich auf Ana zu. Ihre Beine waren wie versteinert. Sie wollte fliehen, konnte aber nicht. Der Schatten kam näher und näher und – verschwand. Im selben Augenblick bemerkte sie, dass die Augen der Saturn-Statue nicht mehr leuchteten.

Endlich fand sie die Kraft zu rennen. Sie verließ den Friedhof und rannte die ganze Nacht, bis sie sicher zu Hause war. Der nächste Tag war normal, das Leben ging weiter. Aber die grünen, leuchtenden Augen der Steinfigur verfolgten sie bis in ihre Träume und ihre Instagram-Story zeigte immer noch die Worte der Statue, klar und deutlich für jeden lesbar.

Die Wächter des alten Friedhofs hatten ihrer Pflicht Genüge getan. Sie hatten die Störerin vertrieben und die Toten beschützt. Ana wusste nun, dass es Orte gibt, die man besser in Ruhe lässt. Und die Wächter wächterten weiter, stets bereit, die Ruhe der Toten zu verteidigen.

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