Miles war ein Urban Explorer, fasziniert von den zahllosen Tunneln und Geheimnissen, die unter seiner Stadt lauerten. Er genoss die einsame Stille, die Kühle und das Gefühl, ein Entdecker zu sein, der in einer Welt unter der Welt herumkriecht. Aber das was er heute erleben würde, war viel mehr als er sich je hätte vorstellen können.
Es war ein normaler Freitagnachmittag, als Miles sich entschloss, die längst verlassene U-Bahn-Station, welche unter der Stadt vergraben lag, zu erforschen. Er hatte die Station vor etwa einer Woche gefunden, versteckt hinter einer verblassten roten Tür in einem unscheinbaren Seitengässchen. Im Inneren war dunkle, feuchte Stille, durchbrochen von Tropfen, die irgendwo in der Felsenwand dasitzender Pools fielen.
Als er tiefer in die dunkle Kehle der Station kriecht, vernimmt Miles ein seltsames Geräusch; es war ein Flüstern. Es war leise, fast unmerklich. Aber es war definitiv da. Ein sanftes Gurren, dass tief unter den toten Gleisen pulsierte. Als ob Tausende von Stimmen mit verkorben Schreien aus längst vergessenen Zeiten wehklagen würden. Ein Kälteschauer überläuft Miles. Das ist unmöglich, denk er, und doch – da war es wieder. Das Flüstern, eine Tür, die in einem dunklen Korridor knarzte, eine rufende Distanz.
Die Stimmen klangen verzweifelt, voller Schmerz. Woher kamen sie? Waren sie echt? Waren es Geister? Miles wusste nicht, was er tun sollte. Jeder Instinkt in seinem Körper schrie ihn an zu rennen, aber seine Neugier war stärker.
Er gähnt einen schmalen, dunklen Tunnel entlang, der sich hinter der verlassenen Plattform erstreckt. Pulsierendes, warmes Licht drängt sich aus Rissen in der alten Ziegelmauer hervor und entblösst die verborgene Realität. Die Wände sind mit alten Configen und dunkler Schmiere überzogen. Und die Stimmen, lauter und verzweifelter, hallten unerbittlich durch den Tunnel.
Miles drückt nach vorne, seine Taschenlampe zittert in seiner Hand. Er kommt in einen Raum und sieht eine große Gruppe von Menschen in Lumpen bekleidet. Sie kreisen um ein brennendes Feuer und murmeln ununterbrochen. Sein Atem stokt in der Kehle. Er kann nicht glauben, was er sieht. Diese Gesichter… Sie waren alt und jung, Männer und Frauen, Kinder. Und sie waren blass… fast durchsichtig. Geschockt schaut er umher: Die Wände des Raumes waren mit geisterhaften Graffiti bedeckt, die Gestalten und Worte porträtierten, die er nicht verstehen konnte.
Er versucht heimlich einen Schritt zurück zu treten, aber ein Knirschen lauter Schritte läutet mit einer kalten Stille durch den Gang. Alle Köpfe drehen sich zu ihm. Münder offen mit einem stillen Schrei. Sie haben ihn bemerkt…
Der Fluchtinstinkt packt Milo. Er rast den Korridor entlang, stolpert über losen Schutt und drückt sich durch schmale Spalten. Seine Lungen brennen, sein Herz schlägt ihm in der Brust, seine Beine bewegen sich von selbst. Er benötigt eine gefühlte Ewigkeit bis er endlich das Tageslicht erhascht und aus der roten Tür entweicht. Die Sonne prallt erbarmungslos auf ihn nieder, kontrastiert mit der dunklen Angst, die ihn noch immer begleitet. Das Grauen unter der Stadt hat ihn nicht losgelassen.
Zuhause angekommen wirft er sich auf sein Bett und lässt die Erfahrung in seinem Kopf kreisen. War es nur seine Einbildung gewesen? Waren es tatsächlich Geschichten über verlorene Seelen, die er in den heissem Gängen der U-Bahn-Station gesehen hatte? Er konnte es nicht erkennen und doch… das Flüstern, es klang noch immer in seinem Ohr wie ein fernes Echo.
Spät in der Nacht, immer noch wach, hört er es. Das Flüstern. Es ist da, unter seinem Bett, in den Wänden, im Wind. Es war stärker als je zuvor, als ob es ihn rufen würde. Er deckt sich zu, schließt die Augen und versucht das Flüstern zu ertragen. Als er aufwacht, ist es morgen. Das Flüstern ist fort. Aber bleibt die Frage… War es je wirklich fort gewesen?