jeden Tag eine Geschichte
Todesflüsterer

Todesflüsterer

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Lachie, ein vierzehn Jahre alter Junge, hatte ein einzigartiges, aber erschreckendes Talent. Wann immer er jemandem in die Augen sah, hörte er das Flüstern ihres Schicksals. Wenn jemand nah am Tod stand, konnte Lachie es hören; er hörte das Flüstern des Todes.

Heute war kein normaler Tag. Mrs. Pearson, eine liebe alte Dame aus der Nachbarschaft, hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen. Als er in ihr freundliches, von Falten gezeichnetes Gesicht blickte, hörte er es. Es war laut und deutlich, das Flüstern des Todes, das verhängnisvolle Omen ihrer bevorstehenden Ableben. Erschrocken zog er seine Hand weg und blickte auf den Boden.

„Ist alles in Ordnung, Lachie?“ fragte Mrs. Pearson sorgenvoll. Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. Anstatt zu antworten, verließ er hastig das Haus.

Als er sich Zuhause in seinem Bett wälzte, konnte er das Flüstern nicht mehr hören. Aber die Erinnerung daran ließ ihm keine Ruhe. Es war unheimlich, wie das unabwendbare Schicksal aus Mrs. Pearsons Augen zu ihm gesprochen hatte. Und plötzlich wurde ihm eine schreckliche Wahrheit bewusst, eine Wahrheit, die sein ganzes Leben veränderte.

Es dauerte nicht lange, bis die Nachricht von Mrs. Pearsons Tod die ruhige Gemeinde erreichte. Die alte Dame war friedlich in ihrem Schlaf verstorben. Lachie fühlte sich schuldig und schrecklich einsam. Diese Gabe hatte ihm das Leben zur Hölle gemacht. Es war wie ein Fluch.

Ein paar Tage später bekam Lachie Besuch von Eva, einem Mädchen aus seiner Schule. Sie war sich ihrer einnehmenden Schönheit wohl nicht bewusst, sie war immer freundlich und hilfsbereit. Ihre grünen Augen funkelten lebendig, als sie ihn ansah und lächelte. Lachie dachte, sie wäre gekommen, um ihn zu trösten, doch als er ihr in die Augen sah, hörte er es wieder: das Flüstern.

Die Information, die ihm in flüsternden Tönen enthüllt wurde, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Eva würde bald sterben. Er schaute sie an, das Lächeln, das Leuchten in ihren Augen, nichts deutete auf das bevorstehende Unheil hin. Ohne zu wissen, was er tun sollte, brach er in Tränen aus.

Einsam und verängstigt schloss er sich in seinem Zimmer ein und vermied jeden Augenkontakt. Er versuchte herauszufinden, was er tun sollte. Er konnte die Menschen doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Aber wie konnte er ihnen helfen?

Inbrünstig flüsterte er vor dem Spiegel, hoffend, dass das Universum seine Worte hören würde. „Bitte, lass Eva leben. Nimm mich an ihrer Stelle. Bitte…“

Am nächsten Tag war Lachie tot. Niemand hätte diesen plötzlichen Herztod beim so jungen und gesunden Jungen erwartet.

Eva lebte weiter. Sie blühte auf und lebte ihr Leben in vollen Zügen, ohne jemals von dem Opfer zu wissen, das Lachie für sie gebracht hatte. Der Todesflüsterer hatte aufgehört zu existieren, aber die Menschen, die er kannte und liebte, lebten weiter. Waren sie verschont, weil er nicht mehr da war, um ihr Schicksal zu hören?

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