Mitten in einer klirrend kalten Winternacht schreckte Luna auf. Etwas hatte sie aus einem tiefen, traumlosen Schlaf geholt. Sie saß aufrecht im Bett und lauschte auf die Stille, die das große, alte Haus umgab. Nichts. Ruhe. Frieden.
Sie kroch zurück unter die Bettdecke, schloss die Augen und hörte doch wieder ein kratzendes Geräusch. Ihre Augen flogen auf. Wieder dieses Kratzen… es war kein gewöhnlicher Ton. Es klang wie eine eisige Pranke, die über das Dach schabte.
Sie umfasste ihre Halskette, ein Medaillon, in welchem ein Foto ihrer verstorbenen Eltern lag. Sie war allein in diesem großen Haus, das sie geerbt hatte. Ein bisschen Mut musste sein. Also stand sie auf und folgte dem unheimlichen Geräusch.
Es führte sie in den zweiten Stock, wo die meisten Zimmer leer standen. Eines der Zimmer war noch vollständig im Originalzustand, als hätte hier niemand seit Jahrzehnten gewohnt. Ihre Hände zitterten, als sie die Tür öffnete.
Das Zimmer war nicht leer. Mitten im Raum stand ein Spiegel, umrandet von frostbedeckten Ornamenten. Die Eisblumen breiteten sich stetig über die Oberfläche des Glases aus, als würde der Spiegel atmen. Ein eisiger Atem, der das Zimmer in eine bitterkalte Atmosphäre gehüllt hatte. Sie näherte sich dem Spiegel und konnte ihr eigenes Spiegelbild darin kaum erkennen. Es war verschwommen, als sehe sie durch einen Vorhang aus Eisnebel.
Plötzlich, eine Bewegung in ihrer Peripherie. Sie fuhr herum, sah aber nichts als die Dunkelheit des leeren Raumes hinter sich. Sie richtete ihren Blick wieder auf den Spiegel und das Herz blieb ihr fast stehen. Heftig pochte es gegen ihren Brustkorb.
In dem Spiegel sah sie sich nicht mehr alleine. Hinter ihr stand eine dunkle, schattenhafte Gestalt. Ihre Augen trafen die ihren im Spiegel, kalt und unerbittlich. Es war keine natürliche Kälte, es war die Kälte, die vom Tod und von der Ewigkeit kam.
Ihr Atem stockte, ihre Finger krallten sich in das Medaillon und sie konnte den frostigen Atem der Gestalt an ihrem Nacken spüren. Sie wollte sich umdrehen, konnte aber nicht. Sie war gelähmt, gefangen in dem Blick dieser Kälte.
Die Gestalt streckte eine Hand aus und berührte Lunas Schulter. Es fühlte sich an wie ein Eissplitter, der in ihr Fleisch drang. Ihr Körper erstarrte augenblicklich, doch sie sah sich noch immer an, die Augen weit aufgerissen, reflektiert im Spiegel.
In diesem Moment erlosch das Bild. Der Raum war wieder leer, der Spiegel wieder klar. Aber Luna blieb, kalt und starr, immer noch auf den Spiegel gerichtet. Wie der frostige Atem, der den Spiegel geküsst hatte, war nun sie diejenige, die in der endlosen Kälte verharrte.
Das Kratzen hatte aufgehört. Das alte Haus war wieder still. Nichts war da; nur der frostige Atem, der durch die Räume streifte und Luna, die im eisigen Spiegel gefangen war. So wurde sie am nächsten Morgen gefunden. Ihr Körper leblos kalt, aber ihr Blick immer noch auf den Spiegel gerichtet, in dem nichts mehr war als das dunkle Abbild des leeren Raumes. Der Spiegel atmete nicht mehr. Aber im ganzen Haus hing nun der frostige Atem der Kälte und des Todes.