jeden Tag eine Geschichte
Nachtschatten

Nachtschatten

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Als ich aufgewacht bin, sah ich die Silhouette eines Mannes aus meinem Fenster. Er stand dort, unter der kahlen Weide, seine Gestalt so schwarz wie die tiefste Nacht. Dezente Noten des alten Morgentaus schwebten in der Luft. Alles war still, nur das leise Rascheln der abgefallenen Blätter war zu hören.

Ich verschwendete nicht viel Zeit damit, die Statur des unbekannten Mannes zu analysieren, und ging wieder schlafen, im Glauben, dass meine überanstrengten Augen nur Halluzinationen zeichneten. Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, war der Schatten immer noch da, unverändert, so fest wie Fels.

Zwei Wochen vergingen. Ich wachte auf, starrte den Nachtschatten an, versuchte mich an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Doch wie könnte man sich an das Unbekannte gewöhnen? Meine schlaflosen Nächte begannen mir zuzusetzen; mein Verstand fühlte sich wie ein dürrer Acker an, hin und her gepflügt von dunklen Gedanken.

Ich begann, in dem Schatten etwas Besonderes zu sehen – ein Wesen vielleicht, oder einen Geist? Ich fühlte mich zunehmend von ihm gezogen, von der Tiefe seines dunklen Wesens, verführt von seinem stummen Ruf in die Dunkelheit.

Es war eine dunkle Nacht ohne Mond, als ich die Kontrolle verlor. Ein unwiderstehlicher Drang zwang mich aus dem Bett. Ich zitterte vor Frost, doch ich spürte eine seltsame Wärme um mich herum. Ich öffnete die Tür, trat in die kühle Nacht hinaus und schlich auf die schattenhafte Figur zu.

Mit jedem Schritt spürte ich die Dunkelheit in mir wachsen. Meine Augen leuchteten hell in der Dunkelheit, als sie die dunkle Präsenz erfassten. In diesem Moment verstand ich nicht nur die Realität des Schattens, sondern auch seine Natur. Er war keine Halluzination – es war ein Nachtschatten, geboren aus Dunkelheit und gefüttert von Verzweiflung.

Wir standen uns gegenüber – ich und der Nachtschatten. Er starrte mich an, mit Augen die keine Augen waren und doch mich und meine innersten Ängste sahen. Dann begann er sich zu bewegen, sozusagen zu flüstern und mir seine düstere Geschichte zu erzählen. Ich hörte aufmerksam zu, obwohl ich kein einziges Wort verstand. Er teilte meine Ängste, meine Trauer, meinen Kummer, und in der Dunkelheit fühlte ich mich weniger allein.

Die Nacht war fast vorbei, als eine plötzliche Kälte mich durchfuhr. Der Nachtschatten verblasste, löste sich auf wie Rauch in der seichten Brise des Morgens. Die Dunkelheit in mir verschwand mit ihm, und ich fühlte mich.. leer, als ob ein Teil von mir mit ihm gegangen war.

Als das erste Morgenlicht durch die Äste der alten Weide schimmerte, stand ich alleine da, frierend, aber irgendwie erlöst. Der Nachtschatten war weg und bei seiner Abreise hatte er meine Ängste und meine Verzweiflung mitgenommen. Obwohl er unwirklich erschien, war seine Präsenz mein Schlüssel zur inneren Ruhe gewesen. Er hatte mein Herz mit einer Dunkelheit erfüllt, die seltsamerweise trostreich war. Ich hatte den Nachtschatten nicht nur gesehen, sondern seine Dunkelheit erlebt und in meinen eigenen Schatten verwandelt.

Das Licht des Tages brach an. Ich blickte auf die leere Weide, als mein Blick auf meine eigenen Schatten fiel. Sie waren länger und dunkler als je zuvor, meine eigenen Nachtschatten, jetzt sichtbar in der grellen Realität des Tages. Doch anstatt sie zu fürchten, fühlte ich eine eigenartige Akzeptanz. Die Dunkelheit war nicht mein Feind, sie war ein Freund, ein stummer Zeuge meiner menschlichen Schwächen.

Ich ging ins Haus zurück, ruhig und befriedet. Seitdem ist jeder Tag ein neuer Beginn. Mit dem Nachtschatten als ständigem Begleiter habe ich die Dunkelheit akzeptiert – die Dunkelheit in der Welt, die Dunkelheit in mir. Jedes Mal, wenn ich meine eigenen Schatten erkenne, erinnere ich mich an den Nachtschatten, der mir half, meine Ängste zu konfrontieren und meinen eigenen Schatten zu umarmen.

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