jeden Tag eine Geschichte
Fluch des Vergessens

Fluch des Vergessens

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Das Geräusch der Kaffeemaschine war das erste, was Noah jeden Morgen hörte. Ausgerechnet heute, am Jahrestag seiner Frau Emilies Tod, versagte die Maschine jedoch ihren Dienst. Es war ein Jahr vergangen und es schmerzte noch immer wie am ersten Tag. Die Stille machte dieses Gefühl nur noch erdrückender.

Heute wollte er aber fortgehen. Es gab einen Wochenmarkt in der Altstadt. Vielleicht würden die Geräusche und Gerüche ihn ein wenig ablenken. Er schlenderte durch die Reihen der lebendigen Verkaufsstände, vorbei am Obst, den Blumen und alten Bücherkisten. Plötzlich fiel ihm am Rande des Marktes ein Stand auf. Eine alte Dame verkaufte dort seltsamen Schmuck, altertümliche Artefakte und merkwürdige Antiquitäten.

„Möchten Sie einen Blick auf den Fluch des Vergessens werfen?“, fragte sie und reichte ihm eine alte, goldene Taschenuhr. Eine Faszination ging von der Uhr aus, die Noah nicht erklärten konnte. Ohne darüber nachzudenken, kaufte er die Taschenuhr und legte sie in seine Manteltasche. Zuhause, in der vertrauten Stille seiner Wohnung, zog der Klang des Uhrwerks Noah in seinen Bann. Er strich sanft über das cool verzierte goldene Gehäuse und öffnete es schließlich.

Zwar tickten die Zeiger regelmäßig vorwärts, aber irgendwie schien die Zeit trotzdem stillzustehen. Plötzlich verblasste das Licht und aus der Ferne hörte er eine vertraute Stimme. Er drehte sich um und dort saß sie. Emily, am Küchentisch, lächelnd, lebendig. „Wie kann das sein?“, flüsterte er. „Du bist doch tot.“

„Manchmal vergessen Menschen, zu sterben, Noah“, sagte Emily, stand auf und streckte die Hand aus. „Bist du bereit, das Vergessen zu umarmen?“

Zerknirscht schlug er ohne zu zögern das tiefschwarze Gehäuse der Uhr zu. Emily verschwand und die absolute Stille zerriss ihm fast das Herz.

Und doch, von diesem Tag an, jedes Mal wenn Noah die Stille nicht mehr ertrug oder die Sehnsucht nach Emily zu stark war, öffnete er die Uhr und sie erschien ihm. Sie kochten zusammen, sahen ihre Lieblingsserien, lachten und weinten. Er genoss jeden Moment mit ihr, obwohl es ihm gleichzeitig das Herz zerriss. Wusste er doch, dass diese Momente nur in seinem Kopf existierten. Doch die Einsamkeit ohne sie, schien unerträglicher.

Bis zu einem besonderen Tag. Emily stand leise weinend am Esstisch. „Was ist los?“, fragte Noah. „Es ist Zeit für dich, mich zu vergessen. Das ist der wahre Fluch dieser Uhr, Noah. Sie fesselt dich an mich und hält dich von der Zukunft fern. Du musst mich loslassen, um deine Zukunft zu finden. Vielleicht ist da draußen jemand, der auf dich wartet, der dich aus der Dunkelheit zieht.“

Und mit diesen Worten, schloss er die Uhr. In seiner Stille, seinem allein sein, fühlte er, dass Emily recht hatte. Es war schmerzhaft, aber er musste loslassen, musste dieses Kapitel schließen.

Die goldene Uhr vererbte er an die alte Dame am Markt, damit auch sie jemand anderen finden könnte. Er hoffte, die nächste Person wäre weiser und erlag nicht der seelischen Folter des Fluches des Vergessens.

Und so ging Noah zurück in die Stille seines Alltags, ohne die Kaffeemaschine, ohne Emily, aber mit einer neuen, faszinierenden Erwartung an das Leben und vor allem an die Zukunft.

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