jeden Tag eine Geschichte
Der Fluch des schwarzen Wassers

Der Fluch des schwarzen Wassers

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In der kleinen Küstenstadt Devonport war das Meer mehr als nur eine natürliche Wasserquelle. Es war das tiefschwarze, stille Herz der Stadt, das alle Bewohner mit ehrfürchtiger Angst und respektvoller Scheu betrachteten.

Die Einheimischen erzählten von einem uralten Fluch. Ein Fluch, der auf jene fiel, die das schwarze Wasser bei Vollmond berührten. Keiner wusste genau, woher dieser Fluch stammte – alte Legenden von verärgerten Meerjungfrauen oder ertrunkenen Seelen von Piraten machten die Runde.

Sophia, eine aufstrebende Journalistin und Neuankömmling in der Stadt, lachte nur über die alte Aberglauben. Sie entschied, dass es an der Zeit war, den Fluch zu widerlegen und die Leute von ihrer unnötigen Furcht zu befreien. Bei Vollmond fuhr sie mit ihrem kleinen Ruderboot aufs offene Wasser.

Als der Mond hoch am Himmel stand, beugte sie sich vor und tauchte ihre Hand in das pechschwarze Wasser. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie schob es auf die nächtliche Meeresbrise. Sie kehrte unversehrt zur festlichen Versammlung am Strand zurück, stolz darauf, der Fluch sei nur eine absurde Legende.

Doch am nächsten Morgen war sie nicht mehr die gleiche. Sophia, die sonst so lebhafte und lustige junge Frau, war leise und zurückhaltend geworden. Sie befand sich ständig in einem Zustand der Abwesenheit. Ihre Augen, zuvor strahlend und lebendig, wirkten nun hohl und leer, als ob sie auf etwas in der Ferne starrten, das niemand sonst sehen konnte.

Sie verbrachte die meisten ihrer Tage am Ufer, starrend auf die schwarze Tiefe der Wasser. Als Nachbarn versuchten, mit ihr zu sprechen, antwortete sie kaum. Stattdessen murmelte sie immer wieder „Sie rufen… Sie rufen…“

Eines Tages war Sophia verschwunden. Die Stadtbewohner suchten nach ihr, aber alles was sie fanden, war ihr verlassenes Boot, welches an der Oberfläche der schwarzen Wasser trieb. In Sophie’s Haus fand man Tagebücher mit unzähligen Einträgen über Stimmen, die sie aus der Tiefe hörten, und Schattenfiguren, die sie aus dem Wasser aufsteigen sahen.

Die Stadt fiel in helle Aufregung, und die Angst vor dem schwarzen Wasser und seinem Fluch wuchs nur noch mehr. Keiner wagte es mehr, das Meer bei Vollmond zu berühren, und Dennoch verschwanden immer wieder Menschen. Sie alle hatten eines gemeinsam, sie hatten dieses ehrfürchtige schwarze Wasser berührt.

Niemand weiß, was genau mit Sophia und den anderen geschah. Doch wenn man an ruhigen Nächten, wenn der Mond hoch am Himmel steht, am Ufer lauscht, kann man leise Stimmen aus der Tiefe hören. Sophia’s Stimme ist eine von ihnen, sie rufen, immer und immer wieder…

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