jeden Tag eine Geschichte
Gefangen im Frost

Gefangen im Frost

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In der verschneiten Winterlandschaft erstreckte sich das alte, verlassene Herrenhaus wie ein finsterer Schatten auf der schneebedeckten Lichtung. Eingefroren in der Zeit, hatte es lange keinen warmen Atem von Menschen mehr gespürt. Bis an jenem bitterkalten Abend, als sich eine einsame Silhouette seinen Weg zum Haus bahnte.

Es war Max, ein reisender Fotograf, der auf der Suche nach einzigartigen Fotomotiven in das verschneite Niemandsland gekommen war. Er hatte in seinem Leben schon viel gesehen, aber nie hatte ihn ein Anblick so gefesselt wie dieses gruselige, aber atemberaubende Herrenhaus. Seine Augen leuchteten vor Aufregung und Eifer, und ohne einen zweiten Gedanken verbrachte er die eisige Nacht in diesem Haus.

Mit dem Einbruch der Dunkelheit wurde die Kälte unerträglich, der Frost kroch bis in seine Knochen und seine Gedanken wanderten in bedeutsame Ecken. Er zog seine Kamera hervor und fing an, die dunkle Einöde zu dokumentieren. Mit jedem Klick hallte die Einsamkeit des Hauses wider. Was ihm jedoch nicht auffiel, waren die wachsenden Eiskristalle an seiner Kamera und seiner Haut, jeder immer komplexer und faszinierender als der vorherige.

Mit dem letzten Klick seiner Kamera hörte er ein seltsames Geräusch – ein leises Flüstern, das sich wie eine schrille Melodie in seine Ohren schlängelte. Er folgte dem Geräusch und fand sich in einem frostüberzogenen, spiegelnden Raum wieder – so wunderschön und furchterregend zugleich. Der Raum pulsierende in einem schauerlichen Rhythmus, und Max konnte das eindeutige Gefühl nicht abschütteln, dass er beobachtet wurde.

Er hob seine Hand, um die kalten Kristalle an der Wand zu berühren. Die Sekunde, als seine Hand den Frost berührte, breitete sich eine unentrinnbare Kälte in ihm aus. Schaudernd sah er zu, wie seine Hand in einer unheimlich natürlichen Art und Weise zu Eis wurde. Panisch versuchte er, sich zurückzuziehen, aber es war zu spät. Die Kälte hatte sich bereits in ihm festgesetzt und begann, sein Innerstes zu übernehmen, als wäre es eine faszinierende, eisige Landschaft.

Eingefroren in seinem eigenen Horror konnte Max nur hilflos zusehen, wie sein lebender Körper sich nach und nach in ein Eismonument verwandelte. Seine Gedanken wurden träge und seine Sicht verschwamm, während die Welt um ihn herum zu einem frostigen Gemälde wurde. Das Letzte, was er fühlte, war der kalte Wind, der sich in kristallinen Mustern in seinem Haar verfing.

Zur Sonnenaufgang war das Haus noch kälter als je zuvor, fast wie ein gefrorenes Herz, das in seiner eisigen Brust stehr. Und dort, spiegelnd im ersten Licht des Tages, stand Max – ein menschliches Eismonument, inmitten dieses frostigen Herrenhauses. Sein letzter Ausdruck des Schreckens war für alle Ewigkeit in seinem eisblauen Antlitz eingefroren.

Und das einsame, frostige Herrenhaus thront weiterhin in der leeren Weite und wartet darauf, die Wärme eines weiteren unfreiwilligen Gastes in eisige Stille verwandeln. Und an jedem bitterkalten Abend, wenn der Frost die Landschaft übernimmt, kann man Max immer noch durch die toten Augen seiner eisigen Maske sehen – eine lebende Warnung, ein Flüstern im Wind, gefangen im Frost.

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