jeden Tag eine Geschichte
Verdammte Stille

Verdammte Stille

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Ein Schlupfloch im urbanen Grau erinnerte an ein Haus. Zwischen Fabriken und rostigen Bahngleisen war es ein barbarischer Kontrast. Gebaut wie ein Hochsicherheitstrakt, die Fenster mit schweren Eisengittern gesichert, hatte das Gebäude einen gewaltigen, grausamen Charme. Niemand wagte, sich auch nur seinem Hoftor zu nähern. Das Haus war als die „verdammte Stille“ in der Nachbarschaft berüchtigt.

Fynn, ein frecher 16-Jähriger, bekam die Herausforderung, eine Nacht in diesem von der menschlichen Zivilisation ausgelassenen Haus zu verbringen. Der Kitzel von Abenteuer und der Drang, in der Clique cool zu sein, zwangen ihn, die Herausforderung anzunehmen.

Um Mitternacht, bewaffnet mit nur einer Taschenlampe, betrat Fynn das gruselige Haus. Im Inneren war alles noch trostloser als erwartet. Lange Gänge, kahle Wände, kein Mobiliar, nur Staub und Spinnweben. Was Fynn jedoch beunruhigte, war die absolute Stille, die das Haus beherrschte. Kein Windhauch, kein Knarren alter Dielen, einfach nur stille Trostlosigkeit.

Fynn schlich von Raum zu Raum, immer gequält von der eisigen Ruhe, die Eindringlinge wie ihn zu beunruhigen schien. Er versuchte, sich abzulenken, indem er sich Geschichten aus seiner Kindheit erzählte, die einzigen Töne in der verfluchten Stille.

Als er sich endlich hinlegte und versuchte einzuschlafen, brach Chaos von innen aus ihm aus. Sein Herz raste in panischer Angst, seine gesamte Wahrnehmung fixierte sich auf das gnadenlose Schweigen, das ihn eingehüllt hatte. Fynn hörte seine eigene Atmung, seinen Herzschlag, sogar das leise Surren seines Blutstroms – Geräusche, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.

Etwas Unhörbares, Unsichtbares durchstreifte dieses Haus und füllte es mit lautloser Finsternis. Fynns Sinne tobten in der unausweichlichen Stille. Er fühlte sich, als würde er in einem dunklen, bodenlosen Ozean treiben, isoliert von allem Lärm, von jeder Existenz.

Fynns Nerven wurden zum Zerreißen gespannt. Er konnte weder den Rausch seiner unausweichlichen Panik noch den Schlag seines hämmernden Herzens verstummen lassen, der unheilvoll durch das tote Haus hallte. Sein Verstand existierte nur noch in tausenden nuancen von Stille.

Inmitten dieser höllenähnlichen Qual erschien plötzlich ein schwaches Flackern am Ende des Ganges. Ein Licht, leise und zitternd, aber ein Licht, das ihm den Weg aus diesem Meer der Stille wies. In jenem Moment wurde Fynn von der Hoffnung erfüllt, wieder in die lebendige, lärmende Welt zurückzukehren.

Er stand auf und begann, das Licht zu verfolgen. Es war ein langer, gnadenloser Weg, doch das Licht war seine einzige Hoffnung. Das Licht wuchs stärker mit jedem Schritt, mit jeder Sekunde. Fynns Hoffnung wurde von der intensiver werdenden Strahlung genährt.

Als er schließlich das Zimmer am Ende erreichte, entdeckte er eine alte Frau, eingehüllt in ein weißes Gewand, die friedlich auf einem Stuhl saß. Die sanfte Gelassenheit ihres Gesichts strahlte ein beruhigendes Licht aus, das die dämonische Stille besiegte. Sie lächelte Fynn an und flüsterte: „Du hast es geschafft, Junge. Die Stille hat dich gefunden, aber auch der Lärm in dir. Und du hast beide erkannt.“

Mit diesen Worten zerbrach das Schweigen endgültig. Plötzlich drangen Geräusche in das Haus ein – das Klickern von Insekten, das Rascheln von Blättern, das Rutschen entfernter Züge. Die extreme Ruhe hatte sich aufgelöst und der Ort begrüßte wieder die Stimmen des Lebens. Es war, als hätten die Worte der alten Frau den Bann um das Haus und Fynn gebrochen. Der Junge erkannte, dass die quälende Stille nichts anderes als seine eigenen Ängste und zwanghaften Gedanken waren. Er hatte seine inneren Dämonen bekämpft und gewonnen.

Fynn verließ das fröhlich gewordene „verdammte Stille“ Haus bei Tagesanbruch, im Glauben an seine neu gewonnene Stärke. Das Haus an der Ecke, das einst durch seine gruselige Stille gefürchtet war, war jetzt nur noch ein Ort wie jeder andere in der Stadt. Doch die Fragen der nächtlichen Stille und der friedlichen Ruhe der alten Frau brannten noch immer in Fynns Gedanken. „War es alles nur ein Alptraum?“ fragte er sich. „Oder war es eine prüfende Stimme der Stille, die mich auf die Angst aufmerksam machte, die in mir schlummert?“

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