Es war ein ungewöhnlich kalter Spätsommerabend. Der Wind klagte durch das altersschwache Holz des charmant morbiden Hauses, in dem die Freunde Jake und Nina kurzfristig die Nacht verbringen wollten. Sie waren junge, abenteuerlustige Urban Explorer, angezogen vom Mythos längst verlassener Plätze und Gebäude. Und dieses Haus hatte einen besonders schlechten Ruf.
Der Legende nach war es einst das Heim eines gefeierten Schattenfigurenkünstlers. Ein Mann, dessen Meisterschaft darin lag, mit Hilfe von Licht und Dunkelheit faszinierend realistische Schattenspiele zu erschaffen. Doch das Leben des Künstlers endete tragisch und rätselhaft – er verstarb, während er mit seinen Erikaschablonen hantierte. Der Schattenriss seiner toten Silhouette verharrt als grausiges Mahnmal an der Wand seines Studios.
Die junge Frau zog ihre Smartphone-Kamera heraus. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, als sie das verlassene Atelier betrat. Trotz des Verfalls schien die Kreativstube des Künstlers nahezu unberührt zu sein. Die Schablonen der einst vor buntes Glas gehaltenen Puppen lagen noch immer umher.
Der schiefe Lichtstrahl einer Taschenlampen-App fiel auf die Wand, auf der der grausige Schattenriss zu sehen war. „Jake, schau dir das an!“, rief sie und wedelte nervös mit der Lampe. Der Schatten an der Wand bewegte sich beinahe unmerklich. Als ob er atmete.
„Nina, komm, das ist nur der Wind“, besänftigte Jake. Doch als er genauer hinschaute, schien auch ihm, dass der Schatten zu pulsieren schien. Sie starrten gebannt auf die Wand. Plötzlich, wie aus dem Nichts, bewegte sich der Schatten dramatisch. Er dehnte sich aus, verdichtete sich, ehe er die Form einer Hand annahm, die gestisch nach ihnen zu greifen schien.
Erschrocken stolperten sie rückwärts, stießen über eine Schablone und stürzten zu Boden. Mit einem Mal erlosch das Licht ihres Smartphones. Die Dunkelheit schluckte jeden Funken visueller Hoffnung. Sie waren allein, mit dem dunklen Schattenriss, der an der Wand pulsierend weiter wuchs.
Die Dunkelheit fühlte sich dicht und schwer an, eine präsente Kraft, die sie in das dunkle Nichts zu ziehen schien. Ihre vertrauten Konturen verschwanden, erschmolzen in der Dunkelheit und bildeten neue Schatten. Sie spürten, wie das Dunkel in sie eindrang, wie es sie von Innen auffüllen und ihre Seelen verdunkeln.
Als das Licht ihres Smartphones schließlich wieder aufflackerte, war von dem unheimlichen Schattenriss nichts mehr zu sehen. Nur sie beide waren da, in der ansonsten verlassenen Dunkelheit. Doch etwas hatte sich verändert. Sie waren nicht mehr nur sie selbst. Sie waren Schatten ihrer selbst, und der Künstler hatte ein neues Meisterwerk geschaffen.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, fand man nur ihre Handys und Kleidungsstücke. Man sagt, dass in den dunklen Stunden des Tages, wenn du genau hinschaust, du ihre Schatten an der Wand des alten Hauses sehen kannst, verharrt in ewiger Dunkelheit und kraftloser Hoffnungslosigkeit.