jeden Tag eine Geschichte
Verlorener Hauch

Verlorener Hauch

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Sie nennen es das Haus der Verlorenen Seelen, ein verwittertes altes Gebäude, das sich am Ende einer krummen, unbefestigten Straße befindet. Sie sagen, wenn in der Nacht der Mond hoch am Himmel steht, kannst du das Stöhnen der Verlassenen hören, die vage und kaum hörbare Melodie jener, deren Leben hier endete und deren Seelen nirgendwo anders hingelangt sind.

Ich wusste von diesen Geschichten, von der sageumwobenen Angst, die dieses Haus umgab, und doch, getrieben von Neugier und der etablierten Mutprobe unter uns Teenagern, beschloss ich, das Haus zu besuchen. In der Nacht, ausgestattet mit einer Taschenlampe, einem Hundepfeifenanhänger für den Mut und dem unerschütterlichen Glauben, dass ich nicht allein zurückkehren würde, schlug ich den staubigen Weg ein.

Als das Haus in Sicht kam, weiteten sich meine Pupillen. Es war kalt und dunkel, die schäbige Farbe blätterte ab und hinterließ dunkle Flecken, ähnlich wie die eines verfaulten Apfels. Die Fenster waren schwarz und leer, das Glas hatte den Tests der Zeit nicht standgehalten. Es hatte etwas Verführerisches, war aber gleichzeitig unangenehm abschreckend.

Ich betrat das Haus mit leisem Tritt und war sofort von einem stechenden Geruch umgeben, der irgendwo zwischen Moder und verbranntem Holz lag. Meine Taschenlampe glitt über die Wände, über Spinnweben und dunkle Flecken, als plötzlich ein kalter Wind durch das Haus fuhr und die Tür hinter mir zuschlug. Ein kalter Schauer durchzog mich, doch ich zwang mich zur Ruhe. Es war nur der Wind, nichts weiter.

Ich ging weiter, betrat eine alte Küche mit kaputten Schränken und schmuddeligem Porzellan. Die Taschenlampe glitt weiter zu einem offenstehenden Kühlschrank, in dem nichts als Dunkelheit herrschte. Als ich mich umdrehte, hörte ich ein Geräusch, ein leises Wispern, als ob jemand meinen Namen hauchte, kaum hörbar, doch unverkennbar mein Name.

Ich fuhr herum, die Taschenlampe zitterte in meiner Hand. Mein Blick fiel auf ein altes, verblichenes Foto auf dem Boden. Es zeigte ein junges Mädchen, sie schien etwa in meinem Alter zu sein. In ihren Augen lag ein Schimmer von Panik, von Furcht, der mir, selbst aus dem Bild heraus, einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. Das Flüstern setzte erneut ein, lauter diesmal, verzweifelter. Die Luft fühlte sich nun schwer an, fast erstarrt. Sie schien zu pulsieren, zu atmen, als müsste sie all die Angst herausschreien, die sich in diesen Wänden angesammelt hatte.

Ich rannte hinaus, weg von der erstickenenden Dunkelheit, weg von den lauteren, flehenden Stimmen. Doch als ich durch die Tür stürzte, stand ich wieder in der Küche. Da war wieder das Foto, diesmal direkt vor meinen Füßen. Es zeigte mich. Es war mein Spiegelbild, meine augenweiten Schultern, meine fahle Haut. Doch es war auch das Mädchen. Ihre Angst, ihre Verzweiflung. Ihr Hauch.

Ich saß still und sprachlos da, das Foto fest in den Händen haltend, die Flüstern hatten nun aufgehört. Ich wusste nicht wie lange ich dort verharrte, verloren in diesem Haus der verlorenen Seelen.

Als ich das Gebäude schließlich verließ, waren meine Augen alt und müde. Seitdem höre ich bei jedem Windstoß ein Flüstern, höre bei jedem Atemzug den Flehen der Verlorenen. Und immer, wenn der Mond hoch am Himmel steht, fühle ich den verlorenen Hauch. Ihr Hauch.

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