jeden Tag eine Geschichte
Verfluchtes Erbe

Verfluchtes Erbe

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Als der Anwalt am Ende der Testamentverlesung seinen Namen aussprach, schrak Lukas hoch. Die alte Villa am Rande der Stadt wurde ihm vererbt. Er kannte den Vorbesitzer nicht, wusste nicht einmal von dessen Existenz. Niemand kannte ihn oder hatte je von ihm gehört. Ein in Vergessenheit geratener Verwandter vielleicht. Der Anwalt zuckte mit den Schultern, als Lukas ihn fragte. Details konnte er keine liefern.

Neugierig und mit einem Hauch von Aufregung im Bauch sah er sich das alte Gebäude an. Es stand dort wie ein stummes Relikt einer vergangenen Zeit. Bereits in der Eingangshalle spürte er, dass etwas nicht stimmte. Ein seltsames Prickeln überlief ihn, sobald er einen Schritt in das Haus setzte.

Die Nächte in der verfallenen Villa wurden zu einem Alptraum. Ein Knacken hier, ein leises Flüstern dort. Die Geräusche steigerten sich kontinuierlich, als wollten sie Lukas langsam in den Wahnsinn treiben. Er begann, Gestalten in den finsteren Ecken des Hauses zu sehen. Ein flüchtiges Schattenwesen, das am Rande seines Blickfelds tanzte. Es verschwand stets, wenn er sich ihm zuwandte, so dass er anzweifelte, was real war und was seiner aufgewühlten Fantasie entsprang.

Eine Woche später fand er den alten Brief im unerschütterlichen Dunkel des Dachbodens. Eine Botschaft des verstorbenen Verwandten. In dem Brief stand, dass sich in der Tiefe des Kellers ein Spiegel befand. Ein Spiegel, der einst für dunkle Rituale genutzt wurde, um Seelen zu binden und zu kontrollieren. Nie sollte er den Spiegel bewegen oder zerstören.

Gedankenverloren lief Lukas zum Keller hinunter. Dort stand er tatsächlich – ein großer, alter Spiegel mit geschnitztem Holzrahmen, der noch von der vergangenen Pracht kündete. Staub und Spinnweben überdeckten sein Antlitz, aber dennoch glänzte das Glas unheimlich in der Dunkelheit.

Dann sah Lukas sein Spiegelbild. Erst war alles normal, doch dann starrte ihn sein Abbild seltsam an. Die Augen funkelten listig, furchteinflößend. Ehe er sich versah, streckte sein Spiegelbild die Hand aus und berührte die Glasoberfläche von innen. Als ob es versuchte, aus dem Spiegel herauszureichen. Erschrocken wich Lukas zurück, stolperte und stürzte. Der Spiegel fiel um und zerbrach. Die Scherben verteilten sich schimmernd auf dem dunklen Kellerboden.

Lukas blinzelte verwirrt. Plötzlich fühlte er sich schwach, fast durchsichtig. Ein Blick auf seine Hände bestätigte seinen schlimmsten Albtraum. Er war keine feste Form mehr, sondern schwerelos wie der Staub in der Luft. Verzweifelt sah er zu, wie sein Spiegelbild aus den Fragmenten des zerbrochenen Spiegels aufstand, sich den Staub von den Klamotten klopfte und grinsend die Kellertreppe hinaufging.

Dem Wahnsinn nahe, realisierte Lukas, was geschehen war, und was der Brief hatte verhindern wollen. Das Erbe war mehr als ein Haus. Es war ein Gefängnis und er war die nächste Seele, die darin gefangen war. Und niemand würde je von ihm hören, niemand kannte ihn. Genauso wie niemand von dem Vorbesitzer gehört hatte…

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