Es war eine sternenklare Nacht. Anthony saß auf dem Dach seines Hauses und starrte ins endlose Dunkel. Nichts verriet mehr von dem pulsierenden Leben, das in der Kleinstadt seiner Jugend tobte. Vor drei Wochen war eine seltsame Krankheit ausgebrochen, die Ärzte standen vor einem Rätsel. Was als harmlose Erkältung begann, entwickelte sich binnen Tagen zu einer tödlichen Epidemie. Viele waren schon gestorben, so auch seine Eltern. Trotz des schmerzenden Verlustes, fühlte Anthony eine unerklärliche Ruhe in sich. Eine Ruhe die einem Friedhof glich – eiskalt und leblos.
Plötzlich vernahm er ein surrendes Geräusch. Es kam aus der Ferne, wurde stärker, klarer. Es klang wie das Schlagen großer Flügel. Etwas kam auf ihn zu. Und er spürte, dass es ihm galt.
Ein dunkler Schatten näherte sich. Je näher es kam, desto deutlicher wurden die prächtigen, rabenschwarzen Flügel. Es handelte sich um einen Engel. Aber es war kein Engel wie aus den Erzählungen seiner Großmutter. Es war kein bringer von Licht und Liebe, sondern ein Herold der Finsternis, ein Bote des Todes.
Der Engel landete vor ihm, seine hypnotisierenden, silbernen Augen fixierten Anthony. Er konnte nicht wegsehen, er wurde von diesem Anblick magisch angezogen. Dann sprach der Engel. Seine Stimme klang wie ein Orkan, weich, kraftvoll und zerstörerisch zugleich.
„Anthony, ich bin gekommen, um dich zu holen. Der Hüter deiner Seelen hat entschieden, dass deine Zeit gekommen ist.“
Anthony war nicht einmal überrascht. Er fragte sich nicht, warum dieser Engel gerade ihn ausgesucht hatte. Ihm schien es so, als hätte er das immer gewusst, immer auf diesen Moment gewartet.
„Ist es das, was du willst?“, fragte der Engel. Anthony zögerte einen Moment. Wollte er sterben? Aber was hatte er noch zu verlieren? Alle, die er kannte und liebte, waren schon von dort, wo der Engel herkam. Er nickte. „Ja, das will ich“, antwortete er ruhig.
Unvermittelt streckte der Engel seine Hand aus. Kaum hatte er Anthony berührt, fühlte der junge Mann eine mächtige Welle an Erkenntnis und Stärke durch sich hindurchströmen. Es fühlte sich so an, als ob alle Gedanken und Gefühle, die er jemals hatte, in einem einzigen Moment intensiviert wurden.
Und dann kam die Dunkelheit. Nicht die angstvolle Dunkelheit, die man in der Nacht fühlt, wenn man allein in einem nahezu unbewohnten Haus sitzt. Es war eine friedliche, willkommene Dunkelheit. Ein Schlaf der ohne Albträume kam.
Als der Morgen kam, waren die Straßen noch leerer, das surrende Geräusch war verschwunden und Anthony war nicht mehr da. Nur eine leichte Brise zeugte von dem Besuch des Todesengels in dieser Nacht.
Der Tod hatte die Stadt nicht verschont und nur ein leeres Dasein zurückgelassen, in der Erinnerung an das was einst war. Doch irgendwo in der Ferne, hörte man das tröstliche Schlagen großer Flügel und wusste, dass der Tod nicht das Ende war, sondern ein neuer Anfang.